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Veröffentlicht am 11.09.2022

Rot sehen

Rot vor Augen
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In Lina Meruanes Roman "Rot vor Augen" geht es um die Protagonistin Lucina, die auf einer Party in New York plötzlich - und im wahrsten Sinne des Wortes - rot vor Augen sieht. Geplatzten Äderchen sind ...

In Lina Meruanes Roman "Rot vor Augen" geht es um die Protagonistin Lucina, die auf einer Party in New York plötzlich - und im wahrsten Sinne des Wortes - rot vor Augen sieht. Geplatzten Äderchen sind schuld, durch eine angeborene Krankheit gelten Lucinas Augen aus medizinischer Sicht bereits seit jeher eine "tickende Zeitbombe". Und nun sind die Befürchtungen der Ärzte eingetreten und Lucina wird infolge dieses Ereignisses leider auch blind. Ein vorhergesehenes Übel sozusagen, das die junge Frau aber dennoch schlagartig überfällt.

Im Roman beschäftigt sich Lucina nicht nur mit der ihr abhandengekommenden Sehkraft, dem plötzlichen Umherwirbeln in einer scheinbar nun ganz anderen Welt, in der sie plötzlich auf fremde Hilfe angewiesen ist. Fragen um Abhängigkeit und Selbstbestimmung beschäftigen die Protagonistin nun tiefgreifend, Fragen um die Bedingungslosigkeit der Liebe erhält viel Raum in Gedanken und Taten. Die Beziehung zwischen eigenem Körper, Identität, Krankheit bildet das Gerüst der Erzählung, die Dualität zweier Lebenswelten (Wahlheimat New York, familiäre Wurzeln in Santiago de Chile) stellt Lucina vor weitere Herausforderungen. Wir erleben die Empfindungen aller Sinne und Verzweiflungen der Protagonistin, die sich durch das Streben, die eigene Unabhängigkeit wiederzugewinnen, zunehmend radikalisieren, indem sie etwa die Selbstlosigkeit ihres Partners herausfordert.

Die Autorin erlebte einst selbst diesen von ihr beschriebenen Blutsturz, durch welchen auch sie kurzzeitig erblindete. Dass die Protagonistin im Roman dabei den gleichen Namen trägt wie die Autorin selbst lässt ebenfalls auf autobiographische Züge schließen. Für mich ein absolut lohnendes Werk, das hierzulande leider noch recht unbekannt ist, sich aber wirklich lohnt.

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Veröffentlicht am 11.09.2022

Dümpelt still vor sich hin

Beinahe Alaska
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Alaska ist mein absoluter Sehnsuchtsort. Durch Zufall bin ich dann irgendwie auf Arezu Weitholz Roman gestoßen, der mich auf eine Expeditions-Seereise durch die Nordostpassage von Grönland bis (der Titel ...

Alaska ist mein absoluter Sehnsuchtsort. Durch Zufall bin ich dann irgendwie auf Arezu Weitholz Roman gestoßen, der mich auf eine Expeditions-Seereise durch die Nordostpassage von Grönland bis (der Titel verräts - beinahe) Alaska geführt hat. Die Protagonistin ist Mittvierzigerin, beruflich Fotografin und trifft an Bord auf so einige kantige Mitreisende. Das Buch ist dabei voller Melancholie, aber leider irgendwie ziellos, was mich zwischendurch doch vermehrt gestört hat. Die Protagonistin bleibt Gesichtslos, lässt sich dahintreiben und ist ein eher passiver, introvertierter Charakter, der sich an Bord der MS Svalbard durch arktische Gewässer schippern lässt. Ab und zu unternimmt sie Landgänge, besucht an Bord wissenschaftliche Vorträge, starrt oft gedankenverloren in das weite Eismeer hinaus und kommt ab und zu auch um Gespräche mit den Mitreisenden nicht herum. Eine sprachlich angenehme, leichte und atmosphärische Lektüre, aber leider handlungsmäßig nicht ganz so der Knaller, da tatsächlich mehr oder weniger gar nichts passiert und es eher öde vor sich hin dümpelt.

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Veröffentlicht am 08.06.2022

Eine Collage

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
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Über drei Jahrzehnte begleiten wir eine namenlose Erzählerin auf ihrer Kollision mit der Welt. Sie ist Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, wächst als Kind der 80er-Jahre in einer ...

Über drei Jahrzehnte begleiten wir eine namenlose Erzählerin auf ihrer Kollision mit der Welt. Sie ist Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, wächst als Kind der 80er-Jahre in einer westdeutschen Provinz zwischen beiden Herkünften auf. Als der Vater bei einem Sägeunfall stirbt, hinterlässt sein Tod ein starkes Ungleichgewicht in der zurückbleibenden Mutter-Kind-Konstellation, welches sich vor allem in einer Bulimie der Protagonistin manifestiert. Der eigene Körper wird zum Gegner, und auch in der Schule findet sie keinen Anschluss, muss sich mit Rassismus und Ausgrenzung auseinandersetzen. Die sehr unzuverlässige Erzählerin erzählt dabei in üppigen Metaphern aus ihrem jungen Leben und schafft ein Selbstbildnis in hemmungsloser Sprache. Schemenhafte und flimmernde Sprache beleben die oft überspitzte Handlung, bei der man nie sicher sein kann, was wahr und was falsch ist. Alles kann so gewesen sein, doch nichts muss, anything goes scheint hier das Motto zu lauten. Die Erzählerin konstruiert, rekonstrutiert und dekonstruiert ihre eigene Lebensgeschichte in einem ständigen Flow, der hin und wieder plötzlich abbricht, um an späterer Stelle erneut an Fahrt aufzunehmen.
Der Roman ist eine experimentelle und surreale Suche nach der eigenen Wahrnehmung und Zugehörigkeit, immer wieder verwischt die Sprache die Grenzen von Realität und Imagination. Identität, Migrationstrauma und Körperlichkeit spielen eine entscheidende Rolle im Buch, thematisiert werden aber auch Sex(-sucht), toxische Beziehungen und natürlich das Erwachsenwerden in einer unbeständigen Welt. Ein buntes Prismaspiel mit kaleidoskopisch-scharfen Kanten. Ruckartig blitzen Szenen auf und werden dann bis zur Unerkennbarkeit verzerrt und mit einem unsteten Rythmus unterlegt, es steckt unglaublich viel zwischen den Zeilen. Sehr eindrucksvoll und sensibel wird hier eine Collage zwischen hemmungsloser Selbstzerstörung, Selbstinszenierung und leiseren Rufen nach Halt aufgebaut. Ein starker, extravaganter Debütroman mit virtuos-verrätselter Sprache, definitv ein Jahreshighlight für mich. Nach diesem überaus dramatisch inszenierten Werk bin ich nun gespannt, was wir von Yade Yasemin Önder noch lesen werden, und ich kann das Buch jedem empfehlen, der auf der Suche nach sprachlichen Außergewöhnlichkeiten ist: das Buch ist ein wortgewaltiges Kunstwerk.

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Veröffentlicht am 02.06.2022

Sehr zäh

Der große Fehler
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Andrew Haswell Green entstammt eigentlich eher ärmlichen Verhältnissen, hat sich jedoch in seinem späteren Leben als Stadtplaner einen Namen gemacht, der bis heute unmittelbar mit der Metropole New York ...

Andrew Haswell Green entstammt eigentlich eher ärmlichen Verhältnissen, hat sich jedoch in seinem späteren Leben als Stadtplaner einen Namen gemacht, der bis heute unmittelbar mit der Metropole New York in Verbindung gebracht wird - zumindest wenn man sich etwas mit dem Thema beschäftigt. So verdankt die Stadt ihm heute unter anderem weltbekannte Sehenswürdigkeiten wie den Central Park oder das MoMA, und die durch ihn vorangetriebene Zusammenschluss von Manhattan und Brooklin ließ ihm den Spitznamen „Vater von Greater New York“ zuteilkommen. Im Buch begleiten wir den Sohn der Stadt durch seine Lebensstationen. Auf mühsame Lehrjahre im Handel folgt eine Reise nach Trinidad, wo er zum Verwalter einer Zuckerrohrplantage wird, bis es ihn schließlich nach New York treibt. Im Jahr 1903 wird Green am hellichten Tag vor seiner Haustür erschossen - an einem Freitag den 13. Die Gerüchteküche brodelt natürlich bei solch einem Attentat auf einen stadtbekannten Mann, sogar der Präsident erpicht auf eine schnelle Aufklärug. Und so versucht der ermittelnde Inspektor diesen Mordfall mit Rückblenden in Bezug auf Andrew Greens Lebenslauf zu lösen.

Jonathan Lee hat hierbei also eine Detektivgeschichte in eine Biographie eingebaut, die es natürlich durchaus wert ist erzählt zu werden, wenn man sich nur mal vor Augen führt, wie New York heute ohne das Mitwirken eines gewissen Andrew Greens aussehen würde. Doch die Handlung zog sich leider sehr schleppend dahin und war mir nicht stringent genug, als dass ich mich richtig auf die Geschichte einlassen konnte. Der Zugang war ziemlich schwerfällig, weder zum Plot noch zu den Charakteren konnte ich eine nennenswerte Verbindung aufbauen. Die eher unscheinbar und unnahbar bleibenden Protagonisten und Nebenfiguten konnten mich einfach nicht unterhalten, da über sie schlichtweg zu monoton berichtet wurde. Relativ mühsam war es vor allem, dem Werdegang von Andrew Green zu folgen, da zu viel zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gesprungen wurde und mir der Rote Faden bzw. die Struktur der Ezählung immer wieder entglitten ist.

Der Klappentext rühmt den Roman als „besten amerikanische[n] Roman des Jahres“, und dem kann ich leider wenig zustimmen. Zu verworren und emotionslos erzählt Jonathan Lee die Geschichte dieses eigentlich wirklich interessanten Visionärs des alten New Yorks, dem heute lediglich eine Bank im Central Park gewidmet ist und dessen Name scheinbar längst vergessen ist. Die Sprache bewirkt ein tolles sprachliches Abbild der vergangenen Zeit, aber die Plotgestaltung hat mich leider nicht umgehauen und war mir für eine eigentlich recht spannende (fiktionalisierte) Biographie insgesamt zu lieblos gestaltet.

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Veröffentlicht am 06.04.2022

Attacke

GRM
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GRM erzählt eine Geschichte über, ja - was eigentlich genau? Den modernen, technologischen Menschen könnte man sagen, über das Unmoralische des technischen Forschritts und über gesellschaftliche Missstände. ...

GRM erzählt eine Geschichte über, ja - was eigentlich genau? Den modernen, technologischen Menschen könnte man sagen, über das Unmoralische des technischen Forschritts und über gesellschaftliche Missstände. Das Buch spielt irgendwann in einer Postbrexit-Welt. Es gibt ein Grundeinkommen für alle, die sich einen Chip zur staatlichen Überwachung einsetzen lassen, und es gibt ein Sozialpunktesystem: Bonuspunkte für gutes soziales Verhalten, Strafpunkte für schlechtes. Rahmenhandlung ist die alles miteinander verbindende Geschichte einer Clique aus dem sozialen Brennpunkt Rochdale: vier seelisch verstümmelte Kinder, die nach London ziehen und Rachezüge an ihren Ausbeutern planen.

GRM ist ein Buch über diejenigen, die am Rand der Gesellschaft stehen: aufgegebene Menschen, die dem Verfall überlassen werden und keine Perspektive mehr haben. GRM ist ein Buch über den Überwachungsstaat, über Konsum und künstliche Intelligenz, über die Perversionen der Menschen und das Patriarchat. Eine böse Vision der Zukunft, und gleichzeitig ein düsteres Abbild der Gegenwart: brutal, zynisch und mit scharfer Feder geschrieben. Thematisch überfrachtet, Personell überfrachtet, einfach komplett brainfuck. Ein literarischer Rundumschlag, der kaum ein gesellschaftlich kontroverses Thema nicht wenigstens kurz anschneidet. Big Brother in extremo, verstörend und betörend. Und alle, die dieses wahnsinnige Buch noch nicht gelesen haben: jetzt aber Attacke!

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