Eine Collage
Über drei Jahrzehnte begleiten wir eine namenlose Erzählerin auf ihrer Kollision mit der Welt. Sie ist Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, wächst als Kind der 80er-Jahre in einer ...
Über drei Jahrzehnte begleiten wir eine namenlose Erzählerin auf ihrer Kollision mit der Welt. Sie ist Tochter eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter, wächst als Kind der 80er-Jahre in einer westdeutschen Provinz zwischen beiden Herkünften auf. Als der Vater bei einem Sägeunfall stirbt, hinterlässt sein Tod ein starkes Ungleichgewicht in der zurückbleibenden Mutter-Kind-Konstellation, welches sich vor allem in einer Bulimie der Protagonistin manifestiert. Der eigene Körper wird zum Gegner, und auch in der Schule findet sie keinen Anschluss, muss sich mit Rassismus und Ausgrenzung auseinandersetzen. Die sehr unzuverlässige Erzählerin erzählt dabei in üppigen Metaphern aus ihrem jungen Leben und schafft ein Selbstbildnis in hemmungsloser Sprache. Schemenhafte und flimmernde Sprache beleben die oft überspitzte Handlung, bei der man nie sicher sein kann, was wahr und was falsch ist. Alles kann so gewesen sein, doch nichts muss, anything goes scheint hier das Motto zu lauten. Die Erzählerin konstruiert, rekonstrutiert und dekonstruiert ihre eigene Lebensgeschichte in einem ständigen Flow, der hin und wieder plötzlich abbricht, um an späterer Stelle erneut an Fahrt aufzunehmen.
Der Roman ist eine experimentelle und surreale Suche nach der eigenen Wahrnehmung und Zugehörigkeit, immer wieder verwischt die Sprache die Grenzen von Realität und Imagination. Identität, Migrationstrauma und Körperlichkeit spielen eine entscheidende Rolle im Buch, thematisiert werden aber auch Sex(-sucht), toxische Beziehungen und natürlich das Erwachsenwerden in einer unbeständigen Welt. Ein buntes Prismaspiel mit kaleidoskopisch-scharfen Kanten. Ruckartig blitzen Szenen auf und werden dann bis zur Unerkennbarkeit verzerrt und mit einem unsteten Rythmus unterlegt, es steckt unglaublich viel zwischen den Zeilen. Sehr eindrucksvoll und sensibel wird hier eine Collage zwischen hemmungsloser Selbstzerstörung, Selbstinszenierung und leiseren Rufen nach Halt aufgebaut. Ein starker, extravaganter Debütroman mit virtuos-verrätselter Sprache, definitv ein Jahreshighlight für mich. Nach diesem überaus dramatisch inszenierten Werk bin ich nun gespannt, was wir von Yade Yasemin Önder noch lesen werden, und ich kann das Buch jedem empfehlen, der auf der Suche nach sprachlichen Außergewöhnlichkeiten ist: das Buch ist ein wortgewaltiges Kunstwerk.