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Veröffentlicht am 04.11.2024

Perspektive der Opfer

Bright Young Women
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Der Roman zeigt eindrucksvoll und empathisch, wie der berühmte „zweite Anschlag“ funktioniert, also der Anschlag auf die Überlebenden, der nach dem tatsächlichen Verbrechen durch das Verhalten der Öffentlichkeit, ...

Der Roman zeigt eindrucksvoll und empathisch, wie der berühmte „zweite Anschlag“ funktioniert, also der Anschlag auf die Überlebenden, der nach dem tatsächlichen Verbrechen durch das Verhalten der Öffentlichkeit, der Polizei und der Gerichte verübt wird: dadurch, dass den Überlebenden nicht geglaubt wird, sie nicht in Sicherheit gebracht werden und den Opfern die Schuld in die Schuhe geschoben wird.

All dies passiert auch Pamela und ihren Verbindungsschwestern, nachdem zwei ihrer Mitglieder im Verbindungshaus brutal von einem Serienmörder ermordet wurden. Ich bin kein großer Fan von True Crime oder Thrillern, weil hier meistens die Perspektive des Täters untersucht wird. Aber obwohl die Geschichte, die im Roman erzählt wird, von Serienmörder Ted Bundy inspiriert ist, kommt sein Name im gesamten Roman nicht vor: Die Geschichten und Perspektiven der überlebenden Opfer und die Empathie mit den Opfern stehen im Mittelpunkt, was den Roman in meinen Augen besonders aktuell und relevant macht.

Und auch wenn die geschilderten Geschehnisse teilweise so furchtbar sind, dass ich zwischendurch eine Lesepause brauchte, sind sie immer so feinfühlig und nicht zu drastisch beschrieben, dass die Würde der Opfer gewahrt wird. Deshalb und sicher auch wegen der großartigen Übersetzerin Jasmin Humburg liest sich der Roman sehr flüssig. Dadurch, dass die Kapitel Einblicke in die Perspektive unterschiedlicher Opfer zu unterschiedlichen Zeiten geben, liest sich der Roman zusätzlich sehr abwechslungsreich und die Spannung bleibt bis zum Schluss hoch, obwohl ich persönlich eigentlich schon vor Lesen des Romans wusste, wie die Geschichte ausgehen würde.

Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die unglaubliche Widerstandskraft und Resilienz der überlebenden Opfer. Der Roman zeigt, wie sie Schmerz und Trauma in positive Handlungen umwandeln. Das macht trotz des vielen Frusts darüber, dass auch heute noch Frauen und anderen marginalisierten Opfern nicht geglaubt wird und Männer für ihre Mittelmäßigkeit bewundert werden, ein bisschen Hoffnung! Ich habe den Roman insgesamt sehr gerne gelesen und er hat mich sehr beschäftigt. Das kommt definitiv nicht bei jedem Buch, das ich lese, vor. Eine kleine Kritik spreche ich jedoch aus: Der Roman ist sehr amerikanisch, weil die Todesstrafe gegen den Täter nicht infrage gestellt wird, das fand ich teilweise unangenehm. Jasmin Humbug hat wie immer großartig übersetzt.

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Veröffentlicht am 02.11.2024

Literarische Entdeckung

Das Wesen des Lebens
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„Das Wesen des Lebens“ war für mich eine unerwartet positive Überraschung - ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich den Roman so sehr mag! Vom Stil erinnert es mich mit seiner poetischen Schreibart ein ...

„Das Wesen des Lebens“ war für mich eine unerwartet positive Überraschung - ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich den Roman so sehr mag! Vom Stil erinnert es mich mit seiner poetischen Schreibart ein wenig an Florian Illies, den ich als Autor auch sehr mag. In diesem Buch geht es jedoch nicht um Kultur, sondern um die Geschichte der Naturwissenschaften und des Artensterbens am Beispiel des Skeletts der Stellerschen Seekuh.

Anhand des Skeletts der Stellerschen Seekuh entfaltet sich ein faszinierender und gleichzeitig melancholischer Erzählstrang, der die Zerstörungskraft der menschlichen Neugier, das Streben nach Erkenntnis und dessen oft tragische Konsequenzen für die Umwelt beleuchtet. Mit der Seekuh reist man von der Beringsee des 18. Jahrhunderts und den rauen Bedingungen der Großen Nordischen Expedition über die russisch-amerikanische Kompanie in Alaska im 19. Jahrhundert bis zu den Vogelinseln vor Helsinki Mitte des 20. Jahrhunderts und lernt durch die Verbindungen der Seekuh und ihrer Forscher:innen auch weitere ausgerottete Arten kennen. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich normalerweise nicht so sehr für die Geschichte der Naturwissenschaften interessiere. Turpeinen erzählt aber so schön und schafft es auch, einfühlsam Perspektiven für Hoffnung aufzuzeigen, dass ich zwischendurch vor Trauer und Rührung ein paar Tränchen verdrücken musste. Wer hätte das gedacht?

„Das Wesen des Lebens“ ist für mich eine richtige literarische Entdeckung gewesen - ein absolutes Muss für alle, die es auch gerne mal nachdenklich und etwas melancholisch mögen und definitiv nicht nur für Menschen, die sich für Artensterben und Naturwissenschaften interessieren!

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Veröffentlicht am 28.10.2024

Sehr besonders

Im Morgenlicht
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„Im Morgenlicht“ ist ein Roman, der als Mischung aus Umweltroman, Dystopie und Science Fiction eine dichte, nachdenklich stimmende Atmosphäre schafft. Obwohl die genannten Genres normalerweise nicht meine ...

„Im Morgenlicht“ ist ein Roman, der als Mischung aus Umweltroman, Dystopie und Science Fiction eine dichte, nachdenklich stimmende Atmosphäre schafft. Obwohl die genannten Genres normalerweise nicht meine Favoriten sind, hat mich das Buch mit seinem außergewöhnlichen Aufbau und der tiefgründigen Handlung positiv überrascht.

Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, in den Text hineinzufinden – viele Informationen und Details wollen erst einmal entschlüsselt und in Zusammenhang gebracht werden. Doch sobald ich mich eingelesen hatte, nahm mich die Geschichte mit, und das anfängliche Bedürfnis, jeden Satz genau zu analysieren, wich. Die Geschichte dreht sich um die elfjährige Sil und ihre Mutter, die in einer futuristischen, teilweise überfluteten Stadt in einem Wohnkomplex namens „Morgenlicht“ leben. Die dystopische Atmosphäre baut eine fast schon beklemmende Realität auf, die trotz ihrer Science-Fiction-Elemente als erschreckend realistisch erscheint. Es wirkt wie eine kluge Kommentierung unserer Zeit, ein Spiegel dessen, was passieren könnte, wenn die Menschheit ungebremst Ressourcen verschwendet und globale Krisen verharmlost. Besonders gelungen ist die Darstellung der gesellschaftlichen Schichtung: Der Roman macht deutlich, dass Reiche und Mächtige Krisen ganz anders begegnen können als die durchschnittliche Bevölkerung.
Es bleibt bis zum Ende spannend und unvorhersehbar. Ein durchdachtes Buch von der ersten bis zur letzten Seite, das ein besonderes Leseerlebnis bietet!

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Veröffentlicht am 25.10.2024

Interessante Lebensgeschichte

Coco und die Revolution der Mode
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„Coco und die Revolution der Mode“ ist eine charmante und unterhaltsame Romanbiographie, die das Leben der jungen Gabrielle „Coco“ Chanel lebendig nachzeichnet. Die Geschichte beginnt in den tristen Mauern ...

„Coco und die Revolution der Mode“ ist eine charmante und unterhaltsame Romanbiographie, die das Leben der jungen Gabrielle „Coco“ Chanel lebendig nachzeichnet. Die Geschichte beginnt in den tristen Mauern eines Waisenhauses, aus dem Gabrielle bald mit Träumen ausbricht, die sie weit über die konventionellen Rollenbilder ihrer Zeit hinausführen sollen. Obwohl sie zunächst von einer Karriere als Sängerin träumt, merkt sie bald, dass sie dafür wohl doch nicht das nötige Talent mitbringt, um ganz groß herauszukommen.

Der Roman nimmt die Leser:innen mit auf Gabrielles Weg durch verschiedene Berufsstationen. Besonders gut hat mir gefallen, dass hervorgehoben wird, dass sie nicht ganz allein erfolgreich wird, sondern immer durch Schwestern und Freund:innen unterstützt wird. Der Durchbruch bleibt lange aus, bis sie auf Boy Capel trifft – einen Mann, der nicht nur ihre große Liebe, sondern auch ihr Förderer wird. Durch ihn entdeckt Gabrielle ihre wahre Berufung: die Mode. Mit der Eröffnung ihres ersten Modehauses und der Entwicklung ihres ganz eigenen Stils beginnt nun ihr Weg zur Modeikone.

Die Autorin hat es geschafft, die Geschichte authentisch und lebendig zu gestalten, ohne allzu weit von den historischen Tatsachen abzuweichen. Ein kurzes Nachwort informiert über die kleinen künstlerischen Freiheiten, die für die Erzählung genommen wurden. „Coco und die Revolution der Mode“ ist leicht zu lesen und bietet genau die richtige Mischung aus Unterhaltung und historischem Einblick, die ich von dieser Buchreihe erwarte. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch für alle, die sich für Modegeschichte interessieren und zugleich eine charmante Lebensgeschichte lesen möchten!

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Veröffentlicht am 24.10.2024

Übung in Empathie

White Lives Matter
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Als ich das Cover und den Titel dieses Romans zuerst sah, dachte ich sofort an den Slogan der White-Power-Bewegung aus den USA und wollte mich schon aufregen - und dann sah ich, dass die großartige Jasmina ...

Als ich das Cover und den Titel dieses Romans zuerst sah, dachte ich sofort an den Slogan der White-Power-Bewegung aus den USA und wollte mich schon aufregen - und dann sah ich, dass die großartige Jasmina Kuhnke den Roman geschrieben hat, deren ersten Roman „Schwarzes Herz“ fand ich sehr gut fand: eindringlich, intensiv und emotional mitnehmend. Diesen Roman MUSSTE ich also auch lesen.

Kuhnke dreht hier den Spieß um: Anna ist eine der wenigen Weißen in ihrem Studiengang, als erste in ihrer Familie hat sie es an die Uni geschafft. In Annas Welt werden Weiße aufgrund ihrer Hautfarbe seit Jahrhunderten diskriminiert. Nach und nach entdeckt Anna in ihrem Geschichtsstudium und in ihrem Alltag, dass die Diskriminierung auf koloniale Verbrechen zurückgeht und sie selbst durch besonders angepasstes Verhalten nicht verhindern kann, strukturell und im Alltag diskriminiert zu werden. Als Anna gerade beginnt, selbstbewusster zu werden, wird ihr Bruder Opfer rassistischer Polizeigewalt gegen Weiße. Ihr Leben kann nicht mehr so weitergehen wie vorher.

Insgesamt greift Kuhnke mit dieser kreativen Idee das wichtige Thema der empathy gap auf: Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass Schwarzen gegenüber weniger Empathie empfunden wird, was schmerzhafte und tödliche Folgen haben kann. Insgesamt ist der Roman dennoch relativ einfach erzählt, sodass er mir insgesamt eher wie ein Jugendbuch vorkam. Manche Stellen waren für mich sprachlich nicht ganz so eindringlich und kraftvoll wie im Debütroman: Einige Dialoge wirkten durch die Verwendung von eher pubertärer Jugendsprache auf mich unpassend für das studentische Milieu. An vielen Stellen wird, um Annas Entwicklung unmissverständlich klarzumachen, das Prinzip „Show, don‘t tell“ verletzt, wenn z.B. am Ende eines Kapitels darauf hingewiesen wird, dass Anna sich nun selbstermächtigt habe. Ich persönlich hätte es besser gefunden, die Leser:innen das aus Annas Verhalten interpretieren zu lassen, für jugendliche oder unerfahrene Leser:innen ist das aber bestimmt hilfreich. Mir haben die fiktiven historischen Rückblicke daher viel besser gefallen, die sehr eindringlich geschrieben sind und zahlreiche berührende literarische Leerstellen offen lassen.

Insgesamt würde ich den Roman daher als guten Einstieg ins Thema auch für Jugendliche sehen, dem dann aber weitere Lektüre folgen sollte. Denn auch die empathy gap wird im Roman explizit, aber sehr vereinfacht erklärt: Diese besage, dass Menschen ohne Diskriminierungserfahrungen nicht in der Lage seien Empathie für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen zu haben - das greift aber meines Wissens ein bisschen zu kurz, da es Studien gibt, die zeigen, dass auch Schwarze Menschen weniger Empathie mit Schwarzen haben und dass deshalb dieser internalisierte Rassismus aktiv von allen verlernt werden muss, um gesellschaftliche Änderungen zu bewirken. Wenn dies passiere, ist es jedoch auch für Menschen ohne Rassismuserfahrung möglich Empathie für rassifizierte Menschen zu empfinden. Kuhnke versucht mit ihrem Roman ja sogar selbst, diese anzuregen - und schafft das aus meiner Sicht auch!

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