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Veröffentlicht am 26.03.2021

Was ist im Zimmer 622 geschehen?

Das Geheimnis von Zimmer 622
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Im Sommer 2018 verspürt der Schriftsteller Joël Dicker nach einer gescheiterten Liaison das Bedürfnis, zu verreisen. Er bucht ein Zimmer im Palace de Verbier, einem noblen Hotel in den Schweizer Alpen. ...

Im Sommer 2018 verspürt der Schriftsteller Joël Dicker nach einer gescheiterten Liaison das Bedürfnis, zu verreisen. Er bucht ein Zimmer im Palace de Verbier, einem noblen Hotel in den Schweizer Alpen. Dort wird er im Zimmer 623 einquartiert und wundert sich darüber, dass daneben die Zimmer 621 und 621a liegen, die 622 aber fehlt. Das weckt auch die Neugier von Scarlett Leonas, die aus London angereist ist und im Zimmer 621a residiert. Die beiden begeben sich auf eine Spurensuche, die Joël dazu inspiriert, einen neuen Roman zu beginnen.

Bei ihren Recherchen stoßen sie auf die Geschichte von Macaire Ebezner, dessen Vater bis zu seinem Tod der Präsident der rennomierten Ebezner-Bank war. Nun hofft Macaire, von den drei verbleibenden Ratsmitgliedern zum nächsten Präsidenten gewählt zu werden. Das soll während des „Großen Wochenendes“ passieren, dem jährlichen Betriebsausflug der Bank ins Palace de Verbier. Doch seine Wahl scheint plötzlich nicht mehr sicher. Sinior Tarnogol will Macaires Kollegen aus der Vermögensverwaltung, Lew Lewowitsch, wählen. Macaire ist wild entschlossen, Tarnogol umzustimmen und seine Wahl zu sichern. Doch warum hat Macaire vor fünfzehn Jahren überhaupt seine Anteile an Sinior Tarnogol verkauft, der seither an seiner statt im Rat sitzt?

Der vierte in Deutschland erschienene Roman von Joël Dicker ist eine Autofiktion, denn der Autor macht sich diesmal selbst zum Ich-Erzähler der Geschichte. Dieser berichtet, wie er 2018 bei einer Reise ins Palace de Verbier auf einen mysteriösen Mordfall gestoßen ist, der ihn zu seinem neuen Roman inspiriert hat - dem Roman, den der Leser in der Hand hält. Dabei wirkte er auf mich ein wenig selbstverliebt, denn immer wieder erwähnt er, dass ihn alle nur mit „der Schriftsteller“ anreden. Das Buch kehrt immer wieder zu diesem Rahmenhandlung zurück, der größere Teil der über 600 Seiten ist jedoch den Rückblicken in die Vergangenheit gewidmet, in denen die Ereignisse rund um den Mord in Zimmer 622 erzählt werden.

Der Autor nimmt sich Zeit, dem Leser Macaire Ebezner, dessen Frau Anastasia, Lew Lewowitsch und die Ratsmitglieder der Ebezner-Bank vorzustellen. Macaire, der seine Wahl zum nächsten Präsidenten der Band für sicher hielt, schmiedet zunehmend komplexere Pläne, um die einzelnen Ratsmitlieder von sich zu überzeugen. Das Buch lässt sich zügig lesen, doch das ganze Hin und Her zog sich für mich zunehmend in die Länge. Erst auf Seite 412 von 617 kommt die Geschichte endlich beim Mord an.

Das Buch zieht seine Spannung vor allem daraus, dass zentrale Informationen sehr lange bewusst zurückgehalten werden. Zum Beispiel: Wer ist in Zimmer 622 überhaupt gestorben? Wer ist heute der Präsident der Ebezner-Bank? Diese und weitere Informationen sind dem Ich-Erzähler bekannt oder er könnte sie im Nu recherchieren. Auch die Frage, warum Macaire Ebezner seine Anteile damals an Sinior Tarnogol verkauft hat, wird ständig gestellt und erst sehr spät beantwortet. Die Auflösung fand ich nicht sonderlich plausibel, aber ohne dieses Ereignis hätte die Wahl zum Präsidenten ja gar nicht zur Debatte gestanden.

Im letzten Drittel des Buches werden nach und nach die Geheimnisse rund um den Mord enthüllt. Einige hatte ich aufgrund der vielen Hinweise bereits entschlüsselt, doch es gibt so viele Enthüllungen, dass ich trotzdem überrascht wurde. Leider muss ich sagen: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das so etwas tatsächlich funktionieren könnte. Für mich ist „Das Geheimnis von Zimmer 622“ deshalb leider das bislang schwächste Buch des Autors.

Veröffentlicht am 20.03.2021

Was es in den 1960ern hieß, ein uneheliches Kind zu bekommen

Das Fräulein mit dem karierten Koffer
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Sabine ist im im Jahr 1964 neunzehn Jahre alt und arbeitet als Sekretärin. In zwei Jahren wird sie volljährig und endlich unabhängiger von ihrer Mutter Brigitte und deren neuem Mann Heinz, mit dem sie ...

Sabine ist im im Jahr 1964 neunzehn Jahre alt und arbeitet als Sekretärin. In zwei Jahren wird sie volljährig und endlich unabhängiger von ihrer Mutter Brigitte und deren neuem Mann Heinz, mit dem sie gar nicht zurecht kommt. Die beiden verbieten ihr den Umgang mit ihrer Nachbarin Rena, die im gleichen Alter ist wie Sabine und deren Mutter alleinerziehend ist. Doch Sabine gibt nichts auf die Warnungen vor schlechtem Umgang und lässt sich von Rena das Münchener Nachtleben zeigen.

Eines Tages lernt sie in der Diskothek den Studenten Michael kennen, der aus reichem Hause stammt. Die beiden beginnen, miteinander auszugehen, und er verschafft ihr einen aufregenden neuen Job. Auch die Anti-Baby-Pille will er ihr besorgen. Als Sabine die Packung in den Händen hält weiß sie jedoch, dass es schon zu spät ist. Sie bringt das Kind unehelich zur Welt und muss sich den vorwiegend unerfreulichen Konsequenzen stellen...

In den 1960er Jahren war es nicht nur mit einem gesellschaftlichen Stigma verbunden, ein uneheliches Kind zu bekommen. Zusätzlich erhielt die Mutter vom Staat einen gesetzlichen Vormund und wurde oft gedrängt, das Kind zur Adoption aufzugeben. In solch einer Situation findet sich die Protagonistin des Buches wieder, nachdem ihr Freund Michael sie nach der Bekanntgabe, nicht abtreiben zu wollen, verlässt.

Claudia Kaufmann schildert eindringlich, wie schwer es Frauen in einer solchen Situation gemacht wurde. Obwohl zu einer Schwangerschaft immer zwei gehören sind sie es, die von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. In Sabines Fall steht sie ohne Bleibe da, beim Arztbesuch und im Krankenhaus wird sie unmöglich behandelt und ihr Vormund erweist sich als manipulativer Altnazi.

Zum Glück hat Sabine Freunde, die ihr in dieser schweren Zeit zur Seite stehen. Doch auch sie haben ihr Päckchen zu tragen. Ihr Freund Holger, bei dem sie eine Weile unterkommen kann, ist homosexuell. Das ist zu jener Zeit noch immer strafbar, und Jahre zuvor hat er schlimmste Erfahrungen gemacht, die ein Trauma hinterlassen haben.

Das Tempo zieht zunehmend an und der Wandel, der in der Gesellschaft allmählich stattfindet, wird geschildert. Sabine kämpft für ihr persönliches Glück und beruflichen Erfolg und war gespannt, ob sie sich ein Leben ganz nach ihren Vorstellungen einrichten kann. Für meinen Geschmack ging es an mancher Stelle jedoch zu schnell voran.

„Das Fräulein mit dem karierten Koffer“ nimmt den Leser mit ins Jahr 1964 und zeigt auf, was es zu jener Zeit hieß, ein uneheliches Kind zu bekommen. Der Roman ist gut recherchiert und bietet ein kurzweiliges Leseerlebnis, bei dem man mitfiebern kann und ins Nachdenken gebracht wird.

Veröffentlicht am 13.03.2021

Mit den Wunderfrauen in die 1960er Jahre

Die Wunderfrauen
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Die vier Wunderfrauen Luise, Helga, Marie und Annabel habe ich im ersten Teil der Trilogie in den 50er Jahren kennengelernt. Nun sind einige Jahre vergangen und ein neues Jahrzehnt hat begonnen. Luises ...

Die vier Wunderfrauen Luise, Helga, Marie und Annabel habe ich im ersten Teil der Trilogie in den 50er Jahren kennengelernt. Nun sind einige Jahre vergangen und ein neues Jahrzehnt hat begonnen. Luises kleiner Laden platzt allmählich aus allen Nähten. Sie muss über eine Erweiterung nachdenken, während ihr gleichzeitig die wachsende Zahl an Supermärkten Konkurrenz macht. Marie lebt mit ihrem Mann Martin und ihren drei Kindern auf dem Brandstetterhof. Dort muss sie ordentlich anpacken, denn ihr Mann verdient tagsüber als Holzfäller zusätzliches Geld und sie besitzen noch keinen Traktor wie andere.

Helga hat die letzten Jahre in München Medizin studiert und ist mit ihrem Sohn David gerade nach Starnberg zurückgezogen, um als Ärztin in der Seeklinik zu arbeiten. Dort wurde ihr als unverheiratete Schwangere einst gekündigt. Vor der Begegnung mit Luise, mit der sie im Streit auseinandergegangen ist, graut es ihr jedoch. Die Chefarztgattin Annabel ist noch einmal Mutter geworden. Ihre Tochter ist an sich gesund, doch eine Fehlbildung stellt den Familienzusammenhalt auf die Probe.

Nach dem trubeligen ersten Band war ich gespannt, welchen Herausforderungen sich die vier Frauen im neuen Jahrzehnt stellen müssen. In der Anfangsszene im Jahr 1963 sitzt Helga in einer Gefängnisszene. Danach springt die Handlung zwei Jarhe zurück, was es mit der Verhaftung auf sich hat wird erst kurz vor Schluss aufgedeckt. Meine Neugier war geweckt und ich flog durch die abwechslungsreiche Geschichte.

Das Buch deckt eine große Bandbreite an Themen ab. Es wird Rock ‘n’ Roll getanzt, immer mehr Menschen machen den Führerschein, Supermärkte zur Selbstbedienung verbreiten sich, die Antibabypille kommt auf den Markt, Bauern stellen von Tieren auf Motoren um und müssen sich mit Plänen für eine Flurbereinigung auseinandersetzen. Auch bei der Fehlbildung von Annabels Tochter war mir sofort klar, welches Thema hier verarbeitet wird. Empathisch wird geschildert, was Schuldgefühle und Schuldvermutungen mit einer frischgebackenen Mutter machen. Annabel war in diesem Buch deutlich sympathischer und es gab viele schöne Szenen insbesondere im Zusammenspiel mit Luise.

Stephanie Schuster gelingt es erneut, die alltäglichen Höhen und Tiefen der vier Frauen fesselnd zu schildern. Dramatische Momente ließen mich mitfiebern und ich erlebte einige überraschende Entwicklungen. „Die Wunderfrauen: Von allem nur das Beste“ gibt facettenreiche Einblicke in das Leben der Frauen in den 60ern. Ich freue mich schon sehr, im letzten Teil der Trilogie in die 70er zu reisen.

Veröffentlicht am 06.03.2021

Packender Roman über zwei ganz unterschiedliche Lebensträume

Lebenssekunden
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Angelika und Christine werden im Jahr 1956 beide sechzehn Jahre alt. Ihre Leben sind sehr verschieden: Angelika lebt in Kassel, ihr Vater ist Künstler und sie interessiert sich sehr für Fotographie. Christine ...

Angelika und Christine werden im Jahr 1956 beide sechzehn Jahre alt. Ihre Leben sind sehr verschieden: Angelika lebt in Kassel, ihr Vater ist Künstler und sie interessiert sich sehr für Fotographie. Christine ist in Ostberlin aufgewachsen und arbeitet als Kunstturnerin auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen hin. Während Angelika nach einem Schicksalsschlag hinterfragt, was sie aus ihrem Leben machen möchte, wird Christine zur Verwirklichung ihres Traums erbarmungslos gedrillt. Doch um die DDR international zu vertreten braucht es nicht nur sportliche Höchstleistungen, sondern auch Linientreue.

Die ersten beiden Romane, in denen die Autorin ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet hat, haben mir ausgesprochen gut gefallen. Meine Vorfreude auf den dritten Roman aus ihrer Feder war daher groß. Als Vorbild für den Roman diente unter anderem Barabara Klemm, die sich als Pressefotografin in ihrem männlich dominierten Umfeld erfolgreich behauptet hat.

Als Leser begleitet man Angelika und Christine fünf Jahre lang. Die Kapitel schildern abwechselnd ihre Leben, wodurch der Kontrast besonders deutlich wird. Angelikas Leidenschaft ist die Fotographie. Ihr Vater hat ihr die Grundlagen gezeigt, doch die Apparate sind teuer und so spart sie schon lange, um sich ein eigenes Exemplar leisten zu können. Sie streift auf der Suche nach Motiven durch die Stadt - ein Müßiggang, der für Christine undenkbar ist. Ihr Leben ist komplett durchgeplant: Sie muss viele Stunden am Tag trainieren, oftmals unter Schmerzen. Gleichzeitig wird genau kontrolliert, was sie isst, damit sie ihre zierliche Figur behält.

Auf der Hälfte des Buches macht das Buch einen Zeitsprung, sodass man die Frauen kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag wiedertrifft. Sie sind erwachsen geworden und müssen sich neuen Herausforderungen stellen. Angelika ist fest entschlossen, in der männlich dominierten Medienwelt als Pressefotografin Fuß zu fassen. Und Christine hat sich in einen Klassenfeind verliebt. Die Themen verleihen der Geschichte neuen Schwung und Berlin als Schauplatz rückt noch mehr in den Fokus. Hier sind die Spannungen zwischen West und Ost besonders groß, was die Protagonistinnen hautnah erfahren.

Ich habe mich beiden Frauen schnell nahe gefüht und fieberte mit ihnen mit. Die Kapiel enden oft mit Cliffhangern und schwenken zum anderen Charakter, sodass ich neugierig weiterlesen musste. Katharina Fuchs hat einen packenden Schreibstil und schildert die Höhen und Tiefen des Alltags der beiden Mädchen mit ebensolcher Spannung wie ihre wegweisenden Momente. Ein sehr gelungener Roman über zwei starke, ganz unterschiedliche Frauen, den ich gerne weiterempfehle!

Veröffentlicht am 06.03.2021

Ein goldener Käfig oder ein Leben in Armut?

Die Verlorenen
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London, November 1747: Bess lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder in einer kleinen Wohnung im Schatten des Fleet-Gefängnisses. Als Krabbenverkäuferin verdient sie nicht viel, sodass sie ihr Neugeborenes ...

London, November 1747: Bess lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder in einer kleinen Wohnung im Schatten des Fleet-Gefängnisses. Als Krabbenverkäuferin verdient sie nicht viel, sodass sie ihr Neugeborenes nicht durch den Winter bringen könnte. Schweren Herzenz gibt sie ihre Tochter Clara im Foundling Hospital ab mit dem festen Versprechen, sie wieder zu sich zu holen, wenn ihre Situation das erlaubt.

Sechs Jahre später ist es so weit. Bess hat zwei Pfund gespart, für sie ein kleines Vermögen, und will Clara zu sich holen. Doch im Foundling Hospital muss sie erfahren, dass ihre Tochter gar nicht dort ist. Einen Tag nach ihrer Abgabe wurde sie wieder abgeholt, und zwar angeblich von ihr selbst. Wer hat sich für sie ausgegeben und warum? Als sie einen Hinweis findet, schmiedet sie einen riskanten Plan...

Das Cover des Romans zeigt eine Frau mit Kind, die in einem verschlossenen Käfig steht. Was hinter diesem Bild steckt enthüllt sich im Laufe der Geschichte. Zunächst aber begleitet der Leser Bess bei ihrem schweren Entschluss, ihre Tochter in die Obhut anderer zu bringen, um ihr Überleben zu sichern. Sie führt wie viele andere Londoner ein Leben in Armut und ist Tag für Tag in der Stadt unterwegs, um als Krabbenverkäuferin ein paar Münzen zu verdienen.

Sehr gut konnte ich ihren Schock nachvollziehen, als sie ihre Tochter endlich zu sich nehmen will und feststellen muss, dass jemand sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen abgeholt hat. Ich erwartete eine lange Spurensuche, doch stattdessen bietet der Roman nach ein paar Kapiteln einen interessanten Twist und wechselt zusätzlich die Perspektive. Man lernt eine wohlhabende Frau namens Alexandra kennen, die ihr Haus nur für den wöchentlichen Kirchgang verlässt und sich in ihrem Haus eine eigene kleine Welt geschaffen hat.

Alexandras Leben in ihrem selbst geschaffenen goldenen Käfig steht in starkem Kontrast zu dem von Bess. Die gesellschaftliche Kluft zwischen den beiden Frauen wird gelungen dargestellt und ihr Aufeinandertreffen ist mit viel Brisanz verbunden. Für mich blieb die Geschichte unvorhersehbar und konnte mich immer wieder überraschen. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Motive für Alexandras Verhalten noch stärker herausgearbeitet werden. Die Schilderungen des Alltags im historischen London sind interessant, auf historische Ereignisse wird jedoch nicht eingegangen. Lediglich das Foundling Hospital hat es tatsächlich gegeben.

„Die Verlorenen“ von Stacey Halls nimmt den Leser mit ins London des 18. Jahrhunderts und bringt ins Nachdenken darüber, ob ein Leben in einem goldenen Käufig dem in Armut vorzuziehen ist oder nicht. Die Suche einer Mutter nach ihrer verlorenen Tochter ist nicht neu. Sie wird hier aber auf ansprechende Weise mit einigen Überraschungen erzählt.