Die Wahrnehmung der Realität den Vorstellungen des eigenen Lebens anpassen
Wir sind das LichtDas Buch "Wir sind das Licht" von Gerda Blees hat mir ausnehmend gut gefallen. Wer sich auf dieses Buch einlässt, darf keinen Roman der üblichen Art erwarten. Die eigentliche Geschichte wird schon im ersten ...
Das Buch "Wir sind das Licht" von Gerda Blees hat mir ausnehmend gut gefallen. Wer sich auf dieses Buch einlässt, darf keinen Roman der üblichen Art erwarten. Die eigentliche Geschichte wird schon im ersten Kapitel erzählt.
Die Wohngemeinschaft "Klang und Liebe" entsagt im Grunde allem, was dem Normalbürger wichtig ist. Die Mitglieder leben in 70er Jahre Möbel, schlafen auf Luftmatratzen und sind davon überzeugt, ohne feste Nahrung und nur von Licht und Luft leben zu können. Klingt verrückt und der logische Verstand sagt einem, dass dies nie gutgehen kann. Trotzdem sind die Mitglieder dieser Gemeinschaft davon überzeugt. Müde und abgemagert gehen sie unbeirrt ihren Weg, harren am Sterbebett ihrer Mitbewohnerin Elisabeth aus, die letztlich an Unterernährung und Entkräftung stirbt. Wegen unterlassener Hilfeleistung kommen alle in Untersuchungshaft und die Ermittlungen beginnen.
Danach setzt das Spannende dieses "experimentellen" Buches ein. Immer wieder wird die selbe Geschichte aus anderer Sicht aufgerollt. Jedes Kapitel beginnt mit: "Wir sind..." und es wird aus jeweils dieser Perspektive erzählt.
Kapitel 3: "Wir sind das tägliche Brot." Hat man schon jemals aus der Sicht eines Brotes unsere Nahrung und unser Leben betrachtet? Brot, das uns am Leben erhält aber im Denken der Mitglieder von "Klang und Liebe" nicht gut für den Körper ist und sinnlos zerkrümelt, aber nicht gegessen wird. Hunger, der so überwunden wird. Beim Lesen musste ich an Bölls "Das Brot der frühen Jahre" denken, denn dort ist Brot auch das Sinnbild für andere Lebensempfindungen. im Gegensatz zu dieser Betrachtungsweise ist das Wort Brot bei Böll aber positiv besetzt.
Kapitel 9: "Wir sind die Eltern". Die Bewunderung für ihre Kinder ist unverkennbar, denn jedes ihrer Kinder ist anders begabt. Doch es zeigt sich auch die Traurigkeit, wenn die eigenen Kinder im Erwachsenenalter mit Worten und Apellen an die Vernunft nicht mehr zu erreichen sind. Da ist Melodie, die mehr Aufmerksamkeit braucht als die anderen Kinder. (S.85/86) Ihr erstes Wort war nicht Papa oder Mama, sondern Cello. "Die Einzige, die wirklich ein Gespür hatte für die Schönheit von Bach, Mahler, Sibelius und all unseren Lieblingskünstlern." Näher wird in dem Kapitel: "Wir sind ein Cello" aus Sicht dieses Musikinstrumentes auf Melodies musikalische Laufbahn, üben bis zum Exzess und trotzdem das Scheitern, eingegangen. (S. 105): "Und damit wurde unsere gemeinsame Zukunft besiegelt. Eine bewegte Zukunft, können wir schon jetzt verraten. Freud und Leid haben wir mit ihr geteilt, aber wenn wir jetzt zurückdenken, erinnern wir uns vor allem an das Leid." Die Erkenntnis, das alles Fördern und Üben nicht reichte. Aus Melodie wurde nie eine große Cellistin. Sie blieb immer Mittelmaß, was sie selbst nicht akzeptieren konnte und enttäuscht die Musik gänzlich aufgab.
Oder Kapitel 10. "Wir sind ein Schmetterling". Ein wundervoller, neugeborener Schmetterling, der schlüpft und in Muriels Gedankenwelt lebt. "Mindestens einmal pro Tag, aber meistens öfter, schlüpfen wir aus unserem Kokon und entfalten unsere Flügel im Sonnenlicht, wobei sich unsere Musterung beeindruckend von der blaugelben Morgenluft abhebt...." Ich glaube, noch nie wurde ein Schmetterling, sowie die Wahrnehmung dieser Tiere mit solch einer Tiefe beschrieben wie in diesem Kapitel. Was löst der Blick auf einen Schmetterling bei Muriel - und sicherlich auch bei Lesern, die sich auf dieses Buch voll einlassen - aus? Es geht immer um Empfindungen, die durch einen äußeren Reiz wachgerufen werden. "Wodurch bekommst du Flügel?" (S. 97)
In allen Abschnitten spielt philosophisches Denken eine große Rolle. Fühlen und Empfinden kommt oftmals stärker zum Tragen als die Realität - auch wenn dies noch so irrational ist.
Kapitel 23: "Wir sind kognitive Dissonanz." (Seite 212) In diesem Kapitel geht es um den Selbstbetrug und wie die Mitglieder der Wohngruppe vor sich selbst die unterlassene Hilfeleistung erklären. Die Überzeugung, dass man Elisabeth einen Gefallen tat, als man bei ihrem Sterben ihre Hand hielt und bei ihr blieb anstatt einen Krankenwagen zu rufen. Spätere Selbstzweifel werden weggeleugnet. "Wir sind die unangenehme Empfindung, die Sie haben, wenn sich herausstellt, dass die Wirklichkeit nicht mit Ihren Überzeugungen übereinstimmt. Wenn sie sich aufgrund Ihres eigenen Verhaltens eingestehen müssen, dass Sie doch kleingeistiger, kleinlicher und konservativer sind, als sie dachten. Wir sind die Grimasse, die dann kurz über ihr Gesicht huscht, nur ein paar Sekunden, bis Sie es geschafft haben, sich eine Geschichte auszudenken, in der Sie die Fakten, oder Ihr eigenes Verhältnis dazu, so verdrehen, bis es den Anschein hat, als würde alles wieder stimmen. Wir sind der Vater und die Mutter Ihres Selbstbetrugs. Dafür müssen sie sich nicht schämen, Sie sind nicht der Einzige." Ganz deutlich wird es auf Seite 214 thematisiert: "Und ganz langsam setzen wir auch bei Muriel und Petrus die Rädchen des Selbstbetrugs in Gang....... und die Erinnerungen an ihre Erfahrungen in der Zelle werden schleunigst angepasst." Was für ein starkes Kapitel. Hier wird generell den Menschen tief in die Seele geschaut.
Dies ist ein Buch das man nicht von vorne nach hinten lesen muss. Jedes Kapitel steht für sich. Einige Kapitel wird man öfters lesen weil sie etwas in einem ansprechen. Andere Kapitel wirken abgehoben oder auch irrational. Aber jedes Kapitel ist eine eigene Betrachtungsweise die es wert ist, darüber nachzudenken. Es ist die Geschichte der Wohngemeinschaft "Luft und Liebe" und doch sind es auch Geschichten von uns selbst. Es wird hinterfragt und entgegen der menschliche Vernunft auch gerade gerückt und angepasst, bis hin zum Selbstbetrug. Das ist das Spannende und auch Skurrile an diesem Buch.
Zum Lesen aber nicht zur Nachahmung empfohlen.