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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.10.2020

Informativ und hintergründig

Nerds retten die Welt
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Mittlerweile prasseln 24/7 unendlich viele Informationen und Nachrichten rund um die Welt und der Geschehnisse auf unserem Planeten auf uns ein, Massen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Um diese zu ...

Mittlerweile prasseln 24/7 unendlich viele Informationen und Nachrichten rund um die Welt und der Geschehnisse auf unserem Planeten auf uns ein, Massen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Um diese zu filtern, zu sortieren, schließlich einzuordnen und dann handlungsfähig zu sein, sie umzusetzen grenzt an Unmöglichkeit, denn einen Alltag haben wir schließlich auch noch. Sibylle Berg versucht also Licht ins Dunkle zu bringen, stellt präzise Fragen, spricht mit Wissenschaftlerinnen aus den unterschiedlichsten Bereichen, erhält punktgenaue Antworten. In diesem Buch kommen 17 Profis aus Bereichen wie z. B. Systembiologie, Neuropsychologie, Pathologie, Neurobiologie, Kognitionswissenschaft, Meeresökologie, Astrophysik, Neuere Geschichte, Konflikt- und Gewaltforschforschung, Informatik, Philosophie zu Wort. Die erste Frage, welche die Autorin allen stellt ist “XY, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?” und aufgrund der unterschiedlichen Fachbereiche kommen da schon viele interessante Antworten. Sibylle Berg stellt ihre Fragen zielgenau, man spürt Skepsis und sie hinterfragt sehr präzise. Immer wieder jedoch äußert sie sich sie sich persönlich, teilt ihre subjektive Meinung mit. Dies wirkt nicht als wolle sie Leserin etwas suggerieren oder als gelte für sie nur ihre Ansicht, dennoch ist mein einziger, kleiner Kritikpunkt, denn ohne diese Einschübe hätte ich es sachlicher empfunden.

Ein sehr informatives und umfangreiches Buch, welches eine große Hilfestellung sein kann um in dem ganzen Chaos einen Durchblick durch Hintergrundwissen zu erhalten, ungemütlich und zugleich angenehm.

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Veröffentlicht am 16.10.2020

Der Sheriff von Raufarhöfn

Kalmann
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Kalmann Óðinnson ist Anfang 30 und lebt in Raufarhöfn, einem kleinen Dorf in Island mit unter 200 Einwohnern im Haus seines Großvaters, bei dem er aufwuchs. Er ist ein Isländer durch und durch, sein IQ ...

Kalmann Óðinnson ist Anfang 30 und lebt in Raufarhöfn, einem kleinen Dorf in Island mit unter 200 Einwohnern im Haus seines Großvaters, bei dem er aufwuchs. Er ist ein Isländer durch und durch, sein IQ ist einem Schaf nicht unähnlich, wie manch einer den Vergleich zieht. Seine Aufgaben in seinem Heimatort sind klar. Zum einen ist er der selbsternannte Sheriff, von seinem amerikanischen Vater hat er einen Sheriffstern, Cowboyhut und eine alte Pistole als einziges Andenken erhalten, außerdem ist er Jäger, alles zur und über die Jagd hat ihm sein Opa beigebracht und natürlich jagt er in erster Linie Grönlandhai um daraus den zweitbesten Gammelhai herzustellen. Bei der Fuchsjagd macht er eine grausige Entdeckung, eine große Blutlache im Schnee und sein Mund ist schneller als sein Gehirn, wie so oft, und er erzählt von dieser Lache im Schnee. In Raufarhöfn bricht das Chaos aus, denn zeitgleich mit der Blutlache ist der ‘König von Raufarhöfn’ verschwunden, Róbert McKenzie. Kalmann gerät in ein großes Durcheinander und mit seiner Naivität und eigensinnigen Lebensklugheit versucht er das Beste daraus zu machen, den Fall zu lösen, große Lebensfragen zu klären, sich eine Frau zu wünschen und an Eisbären zu glauben.

“Aber wer nun glaubt, dass ich eine schwierige Kindheit hatte, weil in meinem Kopf Fischsuppe ist, liegt falsch.”

Kalmann wuchs bei seinem Großvater mütterlicherseits auf und dies war sein Glück, denn seine Mutter hätte ihn andernfalls in eine Behinderteneinrichtung geben müssen und dann wäre Kalmann Óðinnson sicherlich nicht das geworden, was er ist, ein absolutes Original. Der Opa übernahm zur Not auch das Denken für Kalmann und hat ihm alles beigebracht, was er für ein gutes Leben braucht, neben der Gestaltung des Alltags und alles rund um die Jagd sehr viel Lebensweisheit, dass es wichtig ist auf den Bauch zu hören, denn der Kopf hat wenig mit Gefühlen zu tun und daran hält sich Kalmann. So geschieht es halt, dass er ungefiltert seinen Gefühlen und Emotionen verbal Luft macht, denn mit Fischsuppe im Kopf ist der Mund oft schneller als der Kopf. Sicher und wohl fühlt er sich in seiner Rolle als Sheriff, mit Sheriffstern, Cowboyhut und der alten Mauser, alles was er von seinem Vater hat, den er ein einziges Mal in seinem Leben gesehen hat.
Der Großvater ist mittlerweile in einem Pflegeheim, seine Mutter, die Kalmann’s Vormund ist, wohnt weit entfernt, schaut regelmäßig nach dem Rechten, aber lässt ihn in dem Haus des Großvaters ruhigen Gewissens leben. Das klappt auch sehr gut bis kurz vor Kalmann’s 34. Geburtstag, denn da gerät alles durcheinander. Die Entdeckung einer großen Blutlache bei der Fuchsjagd bringt Chaos in sein geordnetes Leben und er selber steckt plötzlich in einem großen Schlamassel.

“Immer zur falschen Zeit am falschen Ort! Wie machst du das nur?”

Kalmann hat ein Talent dafür mit Anlauf in ein Fettnäpfchen oder direkt in ein Wespennest zu treten und findet sich dann plötzlich in einem absoluten Chaos wieder. Sein Lebenschaos voller Naivität und riesigem Herz. Kalmann hat mich und mein Herz erobert, mit leisen und tapsigen Schritten und sich dort eingebrannt. Der Schreibstil ist sehr flüssig, es sind wunderschöne Sätze als Schätze zwischen den Seiten versteckt und ich war in einem absoluten Kalmann-Sog gefangen. Ich bekam überhaupt nicht genug von diesem ungewöhnlichen Helden und seinem Leben, Denken und vor allem Fühlen. Der Geschichte konnte ich gut folgen, sie ist schlüssig und toll, humorvoll auf eine ganz speziell liebenswerte Art, wunderbar und substanzhaltig, die Figur ‘Kalmann’ jedoch großartig. Ein Protagonist, der den absoluten Mittelpunkt bildet, so ausgearbeitet, dass er zum Greifen nah ist und mir die Geschichte fast schon egal war, Hauptsache Kalmann ist da….ja ich habe mich etwas verguckt in diesen urigen Kerl, der nicht allzu viel Glück beim Denken hat.

“Es ist die Unordnung des Lebens. Und wer jetzt denkt, das Leben sei manchmal unordentlich und ungerecht, der hat ganz recht, denn es muss einfach so sein, sonst wäre es nicht das Leben, sondern ein Film.”

“Kalmann” ist eines meiner Jahreshighlights, kein Protagonist hat es dieses Jahr geschafft sich mit solch einer Intensität in mein Bücherherz zu stehlen. Ein kurzweiliger, zaubertoller Roman, eine interessante und gehaltvolle Geschichte und mein persönlicher Romanheld für 2020. Ich denke oft an Kalmann und wie es ihm wohl heute geht.

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Veröffentlicht am 11.10.2020

Tolle Erzählstimme

Was wir voneinander wissen
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Eine große und bedeutende Frage, die sich Menschen stellen, ist, ob man ein Kind in diese Welt setzen möchte und darum geht es in diesem Roman zunächst. Eine Ich-Erzählerin beleuchtet ihr eigenes Leben ...

Eine große und bedeutende Frage, die sich Menschen stellen, ist, ob man ein Kind in diese Welt setzen möchte und darum geht es in diesem Roman zunächst. Eine Ich-Erzählerin beleuchtet ihr eigenes Leben und die ihrer weiblichen Vorfahren, jenes ihrer Mutter und das ihrer Großmutter, eine Psychoanalytikerin. Sie geht jedoch noch viel weiter auf der Suche nach Antworten darauf, wie es möglich ist rationale Entscheidungen zu treffen, wenn sich die emotionalen Folgen nicht einschätzen lassen. Ihre Suche führt sie nicht nur in ihre Familiengeschichte, sondern auch in die der Wissenschaft.

In diesem Roman wird das Philosophiestudium der englischen Autorin Jessie Greengrass sehr deutlich. Die Vermischung aus Familiengeschichte, philosophischen Fragen unter Bezugnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Forschung und Geschichte der Medizin machten für mich den Reiz dieses Romans aus. Ich begegnete nicht nur einer interessanten Ich-Erzählerin, die sich die Frage stellt ob sie ein zweites Kind möchte und in einer Ehe lebt, in der ihrerseits Distanz und Nähe etwas problematisch sind ,sondern auch der Entdeckung der X-Strahlen und Wilhelm Röntgen, der Erforschung der Anatomie von John Hunter und Sigmund und Anna Freud bei der Entwicklung der Psychoanalyse. Die Ich-Erzählerin fand in der wissenschaftlichen Welt eine sichere Zuflucht, als ihre Mutter starb und dieser Einschnitt ihres Lebens viele Fragen aufwirft.
Diese junge Frau nimmt Leser*innen mit in ihre Gedanken, ihre Welt voller Sorgen und Ängste rund um ihre zweite Mutterschaft, ihren Wurzeln, ihrer Beziehung zu anderen und der Welt und Verarbeitung ihrer Biografie.

Den Schreibstil empfand ich als großartig, gewählte Metaphern sehr passend und teils originell, etwas düster und distanziert, sehr sachlich und doch poetisch. Eine tolle, neue und vielversprechenden Stimme.
Ein kurzweiliger philosophisch, poetischer Roman mit psychologischen und wissenschaftlichen Einschüben in brillanter, klarer, nüchterner Sprache rund um die großen Fragen ‘wer bin ich?’, ‘wohin gehe ich?’, ‘wie treffe ich die richtigen Entscheidungen?’ einer ruhigen Erzählerin.

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Veröffentlicht am 04.10.2020

Berührend und schnörkellos

Dschungel
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Felix ist auf seiner Reise in Kambodscha verschwunden. Seine Mutter ist verzweifelt und bittet seinen besten Freund um Hilfe, drückt ihm ein Ticket und die Flugzeiten in die Hand und fleht ihn an Felix ...

Felix ist auf seiner Reise in Kambodscha verschwunden. Seine Mutter ist verzweifelt und bittet seinen besten Freund um Hilfe, drückt ihm ein Ticket und die Flugzeiten in die Hand und fleht ihn an Felix in Kambodscha zu suchen. Entgegen der Meinung seiner Freundin und eigener Zweifel meldet er sich auf unbestimmte Zeit bei der Arbeit ab und macht sich auf den Weg Felix zu finden. Eine lange und doch rasante Reise voller Abenteuer, Sehnsüchte, ungeahnten Gefahren und der Suche nach Felix und damit zu sich selber, in die gemeinsame Vergangenheit beginnt.

“Ich erinner mich genau. Wir stehen einen Schritt vom Tod entfernt, aber wir stehen nebeneinander.”

Friedemann Karig hatte mich bereits mit dem ersten Satz für sich gewonnen und “Dschungel” hat mich völlig eingesogen, durchgeschüttelt, zerfleddert ausgespuckt und sprachlos hinterlassen.
Was klingt wie ein Reiseroman in den Dschungel in und um Kambodscha ist tatsächlich viel mehr, eine sehr individuelle und persönliche Reise des namenlosen Helden und Protagonisten dieses Romans, die in Schuldgefühlen wurzelt und aufgrund emotionaler Erpressung durch Felix’ Mutter erfolgt.
“Dschungel” ist in 4 Teile unterteilt und ein Gemisch aus Heute, den Erlebnissen des Erzählers in der Gegenwart, die Tage während seiner Reise, die Suche in Südostasien und Damals, der Kindheit und Jugend mit Felix.
In den Erzählungen und Erinnerungen des Protagonisten ist Felix ein typisches Alpha-Männchen und er selber das komplette Gegenteil. Felix der Anführer, unnahbar, selbstsicher, teils arrogant und blendend, er selbst ein typischer Mitläufer, unsicher, beeinflussbar, passiv und unscheinbar. Felix wird durch diese Rückblicke immer unsympathischer und es wird unverständlich warum der Ich-Erzähler besessen von der Suche nach seinem Freund ist, es wirkt ungesund und ließ mich an emotionale Abhängigkeit und Schuldgefühle denken und eine leise Stimme flüsterte: “da stimmt was nicht.”.

“Wenn ich deine Augenlider wäre, würde ich deine Augen offenhalten, tagelang. Nicht für ein Spiel, das hättest du sowieso gewonnen. Sondern damit du wirklich mal hinschaust.”

Vergangenheit ist immer subjektiv, Kindheit, Jugend, Pubertät eine sehr emotionale Phase mit Schleiern vor den Augen und der Möglichkeit vieles zu verdrängen und auszublenden unbewusst.
Die Jugend ist eine großartige, freie, prägende Zeit, eine Zeit in der man viel leidet, glaubt vor den größten Problemen des Lebens zu stehen, pures Glück erlebt, die Welt umarmen will und in anderen Momenten plötzlich von der Klippe stürzen möchte, die ersten Schmetterlinge im Bauch und ein Gefühl von Unendlichkeit erlebt. “Dschungel” ist eine Liebeserklärung an diese Zeit, man erlebt die Jugend der beiden Jungs in den 1990’ern durch die Gedanken des Erzählers, die Geschichte einer Freundschaft in flüssiger, einfacher, gezielter Sprache.

“Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.”

Ein im wahrsten Sinne umwerfender Roman, ein unglaublicher Sog, mit einem großen Knall, der unerwartet kam und mir den Atem geraubt hat. Ein neues Lieblingsbuch, ein Buch, was sich eingebrannt hat, ein Buch, welches meine gesamte Gefühlspalette angesprochen hat und mich Zeit und Raum vergessen ließ. Uneingeschränkt empfehlenswert!

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Veröffentlicht am 26.09.2020

A girl namend Johnny

Johnny Ohneland
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“A Girl namend Johnny.”

Joana Wolkenzin wächst in Vorpommern auf und ist anders, das fühlt und spürt sie. Ihre Interesse sind different zu denen der Gleichaltrigen, sie liest wahnsinnig viel und versinkt ...

“A Girl namend Johnny.”

Joana Wolkenzin wächst in Vorpommern auf und ist anders, das fühlt und spürt sie. Ihre Interesse sind different zu denen der Gleichaltrigen, sie liest wahnsinnig viel und versinkt in Büchern, sie lernt Liedtext auswenig, ist sehr sparsam und gerne mit sich alleine. Ganz klar ist schon früh, dass sie kein Mädchen sein möchte und nennt sich selber einfach um, in Johnny, wie der Westernheld in einem Film, den sie zuhause sieht. Ihre Klassenkameradinnen nennen sie Johnny-Mädchen, aber das ist ihr völlig schnuppe, sie steht dazu. Als sie älter wird verliebt sie sich in Mädchen und Jungen, hinterfragt ihre Sexualität, ist Frau und Mann zugleich. Johnny ist einsam begibt sich auf Reisen nach Finnland und Australien, führt komplizierte Beziehungen und sucht sich und ihr Glück in einer Welt, die aus Kategorisierung und Schubladendenken besteht.

“Das erwünschte Glück ist überschaubar und endlich, das unerwünschte Unglück hingegen unermesslich; man weiß ungefähr und manchmal genau, was man ersehnt, aber nicht, was man alles auf keinen Fall verwirklicht haben möchte.”

“Johnny Ohneland” habe ich in der Herbstvorschau des Verlages gesehen und wusste “ich will”, es war ein Gefühl und ich wurde völlig überrascht. Johnny ist mit sich selber im Gespräch auf der Metaebene, reflektiert und spricht zu sich selber als würde sie sich im Spiegel gegenüberstehen. So reist man mit Johnny durch viele Zeiten ihres Lebens. Die Sprache der Autorin ist auf hohem Niveau und der gesamte Roman hat eine besondere Melodik, einen ganz eigenen Rhythmus. Lieder, Songtexte und -auszüge, Zitate aus Gedichten ziehen sich durch die Seiten, passend und perfekt eingesetzt, poetisch und harmonisch.

“Und was konnte man tun? Fliehen,wohin? Es gibt nur ein Land und seine Einwohner heißen Menschen.”

Zentral ist Johnny's Suche nach sich selber, nach Halt, Glück, Beständigkeit und Sicherheit. Konflikte, abgesehen von dem mit sich selber, gibt es auch innerfamiliär so erfahren Leser
innen, dass der Vater nicht mit Empathie gesegnet, die Mutter nicht sonderlich warm ist und sie die Familie eines Tages still verlässt, Johnny und ihr Bruder sind mit dem Vater auf sich gestellt und das Leben würfelt neu. Zwischenmenschlich gerät Johnny immer wieder an Grenzen, Freundschaften oder ein soziales Netz sind nicht ihr Ding, weder der Aufbau, noch die Pflege. Im Sportunterricht ist sie eine der letzten, die aufgerufen wird in eine Gruppe, sie wird eingeladen zu Geburtstagen, Geheimnisse werden ihr auch anvertraut, aber dennoch ist es so, als wären die anderen der Meinung Johnny gehöre dazu, als wollten sie nicht wahrhaben, dass es nicht so ist. Das Dazugehören in gesellschaftliche Gefüge wird von Johnny als Erwartung empfunden, sie selber sieht sich nicht als den typischen Außenseiter, mehr als eine stille Randfigur.

“Eine Verliebtheit hatte mehr einer Schussverletzung zu gleichen, mich hat’s erwischt, einer Krankheit, gegen die man nichts auszurichten vermochte und deren Erreger zugleich die einzige bekannte Linderung darstellte. Dafür aber hieß es, den freien Willen restlos abzutreten, was als nicht so schlimm galt, da man es kaum merken würde. Dafür aber würde man die nicht in Worte zu fassende Glückseligkeit erlangen, man würde sprachlos sein.”

Johnny und die Liebe ist keine einfache Kombination, denn sie stürzt sich in destruktive Beziehungen, verliebt sich in Mann und Frau, weiß selber nicht ob sie Fisch oder Fleisch ist, ob das dazwischen denn genügt, ob es eine klare sexuelle Zuordnung braucht. In der Beziehung mit einem Mann, der klar auf Männer steht wird dieses Problem sehr deutlich, denn Johnny wird verlassen, weil der andere nicht weiter so tun kann, als sei Johnny ein Mann. Entscheidungsfreude ist keine Eigenschaft von Johnny, Entscheidungen sind immer auch innere Kampf bei ihr, sie empfindet diese eher als Verstopfung, denn aus allem wird zunächst eine Frage des Prinzips. Nachdem sie eine Entscheidung getroffen hat wird sie jedoch nie wieder in Frage gestellt. Diese schweren Geburten sind eigene Stolpersteine auf ihrem Weg.

“Zu viele Gedanken und Gefühle, oder wie mochte man bloß das Dazwischen, den Mischmasch daraus nennen, rieselten dir durch den Kopf, ein Gedankengestöber, Schneeersatz, ebenso still, aber nicht halb so schön.”

Es ist ein persönliches Highlight für 2020. Dieser Roman sprengt Grenzen, hat mich tief berührt, ist vielschichtig, intensiv, verworren, ernst, sehr anspruchsvoll und tiefgründig. Die sprachliche Gestaltung ist eine Wucht und großartig. Ein Hoch auf Johnny Ohneland und Judith Zander.

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