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Veröffentlicht am 13.08.2023

Die Unzulänglichkeit der Erinnerung und die Macht von Veränderung - über eine Frau, die ihren Weg sucht, findet und mit Stärke geht

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
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Veränderungen können gut oder schlecht sein, manchmal fühlen sie sich jedoch vielleicht auch zunächst nur schlecht an, einfach weil sich überhaupt etwas verändert, was man gerne beibehalten hätte. Erst ...

Veränderungen können gut oder schlecht sein, manchmal fühlen sie sich jedoch vielleicht auch zunächst nur schlecht an, einfach weil sich überhaupt etwas verändert, was man gerne beibehalten hätte. Erst im Rückblick stellen sie sich dann im positivsten Sinne als die richtigen Veränderungen zur rechten Zeit dar.

In diesem Dilemma bewegt sich auch die Ich-Erzählerin in Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe. Wir begleiten eine Frau Mitte 50, Alleinerziehend, 2 Kinder, die gerade ihr Abitur abgelegt haben und ausziehen werden. Ihre Wohnung wird sie ohne die Alimente nicht halten können. Es ist angesichts der letzten knapp 20 zwar herausfordernden doch trotzdem stabilen Jahre, eine große, vielleicht sogar die letzte große Veränderung. Wie wird sie wohnen, abgesichert sein, wie wird ihr Leben als Mutter nun erwachsener Kinder? Alles steht auf dem Prüfstand.

Der Roman wird so zum einen zum Resümee ihres bisherigen Lebens und gleichzeitig ein Ausblick, das Nachdenken über den Umgang mit Ängsten, Sorgen und Hoffnungen für die Zukunft. Im lockeren eingängigen Schreibstil, mit viel Wortwitz (beispielsweise auch das Buch übers Erinnern, hat sie vergessen) und kurzen Kapiteln als anekdotische Episoden setzt Doris Knecht das Bild einer Frau zusammen, die sich oft unzulänglich fühlt, zweifelt, unsicher ist und doch letztlich mit beeindruckender Stärke durchs Leben geht, arbeitet, zwei Kinder allein großzieht, Feministin ist und trotz aller Hindernisse und Herausforderungen des Lebens immer wieder zu sich selbst findet.

Die zu Beginn dominierende Melancholie und Vergleiche zu Menschen, denen es vermeintlich besser geht, ohne Blick auf ihre eigenen Privilegien und Sinn für die vielen Menschen, die in einer wesentlich schlechteren sozialen und wirtschaftlichen Lage sind, waren für mich stellenweise schwer auszuhalten. Aber auch das macht das Buch stark. Der ungeschönte Blick auf und in das Innenleben einer durchschnittlich privilegierten Frau an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens, mit allen Sorgen und Ängsten die damit verbunden sind.

Spätestens ab dem zweiten Drittel des Buchs ändert sich jedoch der Blickwinkel der Ich-Erzählerin, wird viel differenzierter und reflektierter, mit fast schon ethnographischem Spürsinn (im Sinne Ernauxs als Ethnografin ihrer selbst) beschreibt sie das Aufwachsen in einem Arbeiterhaushalt im katholisch geprägten ländlichen Österreich der 70er Jahre, die Enge, die Normen, die Erwartungen, die für viele andere Sicherheit und Glück bedeuten, doch sie will etwas anderes, will mehr und zahlt auch einen Preis dafür, der immer währende Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit. Aber auch (gewollte und ungewollte) Schwangerschaft, Mutterschaft, Frausein in einer Welt und Gesellschaft, die von patriarchalen Erwartungen und Mustern geprägt war und ist, kommen zur Sprache. Hier entwickelt die Erzählung für mich ihre wahre Stärke, in einem noch immer eingängigen, fast schon leichten Ton mit präzisen Sätzen, analysiert die Ich-Erzählerin ihre Herkunft, Prägung, Entwicklung, Erfahrungen und Empfindungen des Frauseins, Mutterseins, Unabhängigseins, Erwachsenseins und Älterwerdens.

Während ich noch am Anfang skeptisch war und keine wirkliche Sympathie für die Ich-Erzählerin entwickeln konnte, hat sich diese langsam, mit jedem weiteren Kapitel, mit jeder weiteren Zeile, Empfindung und zuweilen komisch anekdotischen Erzählung in mein Herz geschrieben. Für mich ein überraschendes Buch im positivsten Sinne mit einer klaren Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 09.08.2023

Die junge Frau und das Meer

Mattanza
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Mattanza, so viel sei verraten, ist die traditionelle Thunfischjagd bzw. konkret das Töten der Thunfische, als eine der Phasen des Thunfischfangs (Tonnara). Der Roman beschreibt das Leben auf der süditalienischen ...

Mattanza, so viel sei verraten, ist die traditionelle Thunfischjagd bzw. konkret das Töten der Thunfische, als eine der Phasen des Thunfischfangs (Tonnara). Der Roman beschreibt das Leben auf der süditalienischen Insel Katria von 1960 an über 5 Jahrzehnte bis ins Jahr 2012. Katria lebt vom Thunfischfang, der Takt und Leben aller EinwohnerInnen bestimmt. Im Mittelpunkt Eleonora Greco, genannt Nora, der „göttliche Fehler“, denn sie kam gegen alle Erwartungen und Hoffnungen als Mädchen, und nicht als Junge und gebührender Nachfolger des großen Raìs zur Welt. In Ermangelung an Alternativen wird Nora trotz ihres Geschlechts zum Nachfolger ihres Großvaters ernannt und von diesem als Oberhaupt der Thunfischfänger, und aufgrund seiner stillen Autorität implizit der ganzen Gemeinschaft, ausgebildet.

Der Stil und die Geschichte erinnern mich unmittelbar an Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Marquez. Dort das fiktive Macondo als Ausgangspunkt einer Familiensaga an der kolumbianischen Karibikküste, hier die süditalienische Insel Katria (die es tatsächlich gibt und heute Favignana genannt wird). Ein Hauch von magischem Realismus weht durch die Zeilen, wenn Noras Gefühl der Ausgrenzung, ihre Verbundenheit mit dem Meer, der Aberglaube in der Dorfgemeinschaft, die vom Thunfischfang geprägte Gemeinschaft, mit ihren BewohnerInnen und all ihren Eigenheiten mit viel Liebe zum Detail, den Menschen und der Sprache beschrieben werden. Germana Fabiano nimmt uns mit in eine Welt aus Geschichten, Gerüchten, Glauben, „kaum wahrnehmbaren Gesten, Blicken, die hin und her gehen, geflüsterten Worten“. Da ist beispielsweise Don Tanino dei Tonni von dem niemand, einschließlich ihm selbst noch seinen richtigen Nachnamen weiß, als er hundert wurde, habe er verkündet nicht mehr zu sterben.

Wenn die Rolle und innere Berufung des Raìs beschrieben wird, „du wirst in deinem Gesicht die Routen tragen, die du auf dem Meer zurückgelegt hast, die Furchen, die dir die Sonne in die Haut brennt, und eine Zärtlichkeit, die niemand je in dir erkennen wird“, dann kommt darin nicht nur eine gewisse Magie zum Ausdruck sondern auch die unbändige Liebe zum Meer und gleichzeitig der Respekt vor der Natur und der Gewalt des Ozeans.

All diese Geschichten und Traditionen sind es die jahrhundertealtes Wissen konservieren und bis in die Moderne das Leben der InselbewohnerInnen prägen. Fabiano verfasst so mit der Geschichte um Nora eine Chronik dieser Insel und des Thunfischfanges bis in die Moderne, die auch das Leben auf der Insel verändert, sei es durch den Tourismus oder den Fluchtbewegungen über das Mittelmeer.

Besonders gefällt mir, dass eine Frau im Mittelpunkt der Geschichte steht und diese damit auch eine Geschichte von Emanzipation und Ermächtigung in einer Welt die Männern vorbehalten war, ist. Über Jahrhunderte war der Raìs ein Mann und man glaubte nur männliche Nachfahren, wären traditionell der Aufgabe gewachsen. In Mattanza kann man Nora beobachten, wie sie mit Talent und ebenso viel harter Arbeit und Disziplin diese vermeintlichen Gewissheiten Lügen straft und sich den Respekt der Männer erarbeitet. Dabei erleben wir beim Lesen immer wieder wie Nora versucht ihre Rollen als Frau und als Raìs auszutarieren und sowohl die Rollen als auch sich selbst dabei neu zu erfinden.

Ein Lesevergnügen, bei dem man ganz nebenbei auch viel über den Thunfischfang lernt (eine sehr schöne Skizze der Fanganlagen ist im Anhang des Buchs beigefügt). Und immer im Mittelpunkt das Meer als Sehnsuchtsort und Respekt erheischende Naturgewalt zugleich.

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Veröffentlicht am 29.07.2023

Bordieu sitzt mit am Tisch und schmunzelt…

Kochen im falschen Jahrhundert
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Kochen im falschen Jahrhundert liest sich wie ein zeitgenössischer Theaterabend. Moderne Distinktionsmechanismen über Essen, Trinken, Wohnen und auch das Sprechen werden von Präauer sehr amüsant und gleichzeitig ...

Kochen im falschen Jahrhundert liest sich wie ein zeitgenössischer Theaterabend. Moderne Distinktionsmechanismen über Essen, Trinken, Wohnen und auch das Sprechen werden von Präauer sehr amüsant und gleichzeitig erbarmungslos seziert. Die HauptdarstellerInnen in diesem Kammerspiel sind allen voran, die nicht näher bezeichnete Gastgeberin, ihr Partner, der wiederum primär mit seinem Smartphone eine Partnerschaft führt, ein befreundeter Schweizer, seines Zeichens Universitätsdozent und betonter Antikapitalist in Funktionskleidung, sowie ein Ehepaar. In der Nebenrolle ein amerikanisches Paar, eine Zufallsbekanntschaft des Ehepaares am frühen Abend. Trotz unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation bewegen sich alle Figuren zum Zeitpunkt, zu dem sie um den neuen großen dänischen Holztisch sitzen, in einer Blase der gebildeten, betont unangestrengten, wohlhabenden, großstädtischen Schicht. Hier ist Inszenierung alles, wird jedoch nie so genannt oder überhaupt reflektiert. Man wurde vom Leben großzügig bedacht und gibt diese Großzügigkeit gern zurück. Und stellt dies gerne aus. Die bunten Wiesensträuße, die in diesem Milieu gerade angesagt sind und auch die Gastgeberin zur Deko gewählt hat, sind somit nicht etwa das Ergebnis eines ausgedehnten Spaziergangs in der Natur sondern wurden aus dem Großstadtblumenladen eigens kuratiert, um eben ersteres zu inszenieren. Doch wo bleibt das Ich und das Authentische in der Welt-Sein, im Moment-Sein, in dieser Inszenierung? Wo die Freude beim Betrachten der Wiese, dem Pflücken der Blumen, die Zeit in der Natur, die der mitgebrachte Strauß früher konserviert hat? Präauer führt der Moderne einen Spiegel vor, die eine eigene Welt in sozialen Medien geschaffen hat und dabei nicht selten das Leben dabei vergisst.

Soziologische Theorie übersetzt in Literatur, Kammerspiel, leckeres Essen, all das vereint dieser Roman und macht ihn zum Genuss.

Einen Punkt Abzug gibt es für kleinere Logikfehler im Ablauf, was der Qualität des Buches angesichts der inhaltlichen und sprachlichen sehr guten Umsetzung jedoch keinen wesentlichen Abbruch tut.

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Veröffentlicht am 27.07.2023

Ein warmherziger Blick auf alltägliche Sorgen

Kummer aller Art
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In Kummer aller Art wirft Mariana Leky in kurzen Episoden einen Blick auf die Alltagsprobleme von Nachbarinnen, Freunden und Verwandten. Dies gelingt ihr mit einer Warmherzigkeit und einem Blick für zuweilen ...

In Kummer aller Art wirft Mariana Leky in kurzen Episoden einen Blick auf die Alltagsprobleme von Nachbarinnen, Freunden und Verwandten. Dies gelingt ihr mit einer Warmherzigkeit und einem Blick für zuweilen auch skurrile Details, die mich immer wieder zum Schmunzeln gebracht haben. Der Kummer aller Art, und die kleinen Macken, sind es doch letztlich, die uns alle menschlich machen. Und so wachsen beim Lesen auch die Figuren in Lekys Buch mit all ihren Macken und Sorgen ans Herz. Ein Buch, so klug und liebevoll geschrieben, dass es einem warm ums Herz werden lässt.

Nicht zuletzt ist auch der Einband sehr wertig gefasst und das Cover mit Krokodil und Rahmung sieht sehr gut aus. Ein Buch zum Selberlesen und Verschenken gleichermaßen.

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Veröffentlicht am 24.07.2023

Südtiroler Geschichte zum Mitfühlen und Mitfiebern

Das Erbe
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Der Roman beschreibt in sehr kurzweiliger Erzählweise die Geschichte der Familie von Lilli Gruber, genau genommen ihrer Urgroßmutter Rosa mit dem Urgroßvater Jakob und deren Kindern. Man kommt als Leserin ...

Der Roman beschreibt in sehr kurzweiliger Erzählweise die Geschichte der Familie von Lilli Gruber, genau genommen ihrer Urgroßmutter Rosa mit dem Urgroßvater Jakob und deren Kindern. Man kommt als Leserin nicht umhin Rosa für ihren Mut und ihre Haltung in den historisch bewegenden Jahren zu bewundern. Der Roman umspannt die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, über den Krieg bis zur Nachkriegszeit als Südtirol italienisch wurde. Letztlich war es so spannend, dass ich mir direkt den zweiten Teil gekauft habe, denn ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Hella, Rosas Tochter, und dem Rest der Familie in den Jahren des Nationalsozialismus weitergeht.

Ich habe ganz nebenbei viel über die Geschichte Südtirols beim Lesen gelernt und fand auch schön, dass dem Buch Bildmaterial beigefügt ist. Insgesamt daher nicht nur ein Buch zum Mitfühlen und Mitfiebern, sondern eine Dokumentation Südtiroler Geschichte.

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