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Veröffentlicht am 17.04.2023

Grandioser Plot

Der Nebelmann
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Kurz vor Weihnachten verschwindet in dem kleinen Alpenörtchen Avechot die 16-jährige Anna Lou Kastner. Den Fall aufklären soll der umstrittene, römische Kommissar Vogel.
Wochen später irrt Vogel mit blutigem ...

Kurz vor Weihnachten verschwindet in dem kleinen Alpenörtchen Avechot die 16-jährige Anna Lou Kastner. Den Fall aufklären soll der umstrittene, römische Kommissar Vogel.
Wochen später irrt Vogel mit blutigem Hemd durchs Dorf und wird aufgegriffen. Er behauptet, er hätte einen Unfall gehabt, doch das Blut stammt nicht von ihm. Da er als Zeuge nicht glaubwürdig erscheint, wird der Psychiater Dr. Flores hinzugezogen.
Doch was Vogel bei der Befragung erzählt, ist ungeheuerlich.

Mehr verrate ich nicht von dem Klappentext, denn wer das Buch mit all seinen Raffinessen noch genießen will, sollte ihn nicht vorher lesen.

Ich habe mich an anderer Stelle beklagt, dass mir viele der hochgelobten 0-8-15-Thriller zu konstruiert erscheinen und nur der reißerischen Spannung wegen noch grausamere und blutigere Serienmorde en détail erfinden. Dass es anders geht, hat mir der italienische Großmeister Carrisi einmal mehr bewiesen. Bevor im März sein neues Buch »Das Haus der Stimmen« beim Atrium Verlag erscheint, wollte ich gern »Der Nebelmann« lesen, den ich bereits als großartige Verfilmung mit Jean Reno gesehen habe. Dank meines Goldfisch-Gedächtnisses erinnerte ich mich nur noch an die düstere Stimmung und das überraschende Ende. Und genau das fand ich auch in diesem Buch wieder. Carrisis Thriller setzt nicht auf gnadenlose Spannung, sondern baut ihn langsam auf und präsentiert uns ausgefeilte Charaktere, denen allen etwas Fragwürdiges anhaftet. Bis er uns am Ende einige Wendungen präsentiert, die ihresgleichen suchen.

Vogel ist ein wirklich unsympathischer Ermittler. Er ist mehr auf sein Aussehen bedacht, als auf die Lösung des Falls. Seine Methoden mehr als unmoralisch. Während er sich im Blitzlichtgewitter der Medien suhlt, bekommt die Staatsanwältin immer mehr den Eindruck, dass seine Indizien an den Haaren herbeigezogen sind. Schlimmer noch, er hat sie bereits geschickt an die Presse durchsickern lassen. Und das ist das Kernthema des Thrillers. Was geschieht in den Köpfen der Menschen, wenn sich die Medien auf den vermeintlich Schuldigen stürzen?

»Die Leute wollen keine Gerechtigkeit, sie wollen nur einen Schuldigen.« 183

Zu Beginn ist die Anteilnahme der Menschen hoch, man leidet mit den Eltern, die ihre Tochter verloren haben. Doch schon bald vermarkten die Medien das Leid und die Suche nach dem Täter. Das eigentliche Opfer tritt immer mehr in den Hintergrund und eines Tages hat man vergessen, dass das Mädchen Anna Lou Kastner hieß. Egal, ob die Schuld eines Verdächtigen bewiesen ist oder nicht, die Öffentlichkeit hat ihn – dank der Medien – bereits verurteilt.

Wer intelligente Thriller mit Nervenkitzel sucht, sollte Carrisi lesen, der meines Erachtens in Deutschland viel zu wenig Aufmerksamkeit verdient.
Für mich ist Carrisi der Houdini unter den Thrillerautoren – glaub nicht alles, was du siehst, zweifel an allem, was du liest.

»Die dümmste Sünde des Teufels ist die Eitelkeit.« 269

Dieses Zitat wird sich am Ende noch bestätigen, aber ganz anders als man sicher war, es zu wissen.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Venedig im 2. Weltkrieg

Garten der Engel
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1999 – Der 15-jährige Nico besucht sein Großvater, zu dem er schon immer ein besonders inniges Verhältnis hatte, im Krankenhaus. Nonno Paolo hat nicht mehr lange zu leben und gibt Nico jede Woche einen ...

1999 – Der 15-jährige Nico besucht sein Großvater, zu dem er schon immer ein besonders inniges Verhältnis hatte, im Krankenhaus. Nonno Paolo hat nicht mehr lange zu leben und gibt Nico jede Woche einen von fünf Umschlägen, in denen er seine Geschichte erzählt. Und die ausschließlich für Nico bestimmt sind und hofft, dass sie ihm in Zukunft nützlich ist. Er soll die Vergangenheit verstehen und damit auch sich selbst.

1943 – Venedig ist seit 2 Monaten von den Deutschen besetzt, das Leben wird für alle immer unsicherer. Der damals 18-jährige Paolo hat seine Eltern bei einem Bombenangriff verloren und lebt nun allein in einer kleinen, runtergekommenen Weberei. Das Einzige, womit Paolo sich Geld verdienen kann, ist ein letzter Auftrag seiner Eltern. Er soll für einen wohlhabenden Kunden drei identische Banner aus Samt weben mit Venedigs traditionellen Löwen. Doch er ahnt nicht, wer sein Kunde ist. Nach dem tragischen Tod einer Jüdin ändert sich Paolos Leben schlagartig, er soll zwei flüchtigen, jüdischen Partisanen einen Unterschlupf gewähren. Paolo muss eine schwere Entscheidung treffen, die viel Mut von ihm verlangt.

Während Nico die Geschichte liest, fragt er sich immer mehr, weshalb ihm die Alten nichts über die damalige Zeit erzählen, auch scheint ihm die Last zu groß, die Nonno Paolo von ihm verlangt zu tragen. Er wird viele Jahre brauchen, sich seinem Erbe z stellen.

»Garten der Engel« ist ein bewegendes Porträt des venezianischen Lebens während der deutschen Besatzung. Aber ebenso eine Coming-of-Age-Geschichte, die einfühlsam viele Themen behandelt, Einsamkeit, Homosexualität, Verantwortung, Zivilcourage und Mut. Hewson hat sehr vielschichtige, lebendige Charaktere geschaffen, die in ihrer Zeit authentisch verankert sind.

Obwohl es ein Roman ist, der getragen wird von dem düsteren, beklemmenden Alltag im Krieg, hat er viele Spannungsmomente, die schon fast an einen Krimi erinnern. Denn am Ende erfährt Nico ein Geheimnis, das alles in Frage stellt, da konnte ich mir die Träne nicht mehr verdrückend.
Man spürt Hewsons Liebe zu Venedig und seine akribische Recherche hat die Geschichte sehr lebendig gemacht. Im Anhang finden sich interessante Fakten rund um die jüdische Gemeinde in Venedig, sowie ein Stadtplan, in dem die wichtigsten Schauplätze eingezeichnet sind. Das half mir ungemein, mich im Wirrwarr der Kanäle zurechtzufinden, die eine atmosphärische Kulisse schufen für den immer spannender werdenden Fortgang der Handlung.

Durch seine geografische Besonderheit und die vielen Kulturgüter blieb Venedig weitestgehend von Bombenangriffen verschont. Während rundherum in Europa der Krieg wütet, kommen hochrangige Nazis zum Feiern in die Lagunenstadt. Dennoch verfolgen sie hartnäckig ihr Ziel, auch hier die Juden zu deportieren, doch aufgrund der vielen Kanäle ist es nicht so einfach, deren Verstecke zu finden. Einmal mehr scheitern sie hier auch an dem Mut einzelner Menschen, im richtigen Moment das Richtige zu tun.

Interessant war für mich auch die Geschichte um die traditionelle Jacquardweberei von Samt. In einige Szenen sitzen wir mit Paolo und seiner Angestellten Chiara am Webstuhl und bekommen Einblicke in das kunstvolle und aufwendige Handwerk.

Insgesamt ein sehr lesenswerter, ergreifender Roman, den ich gern weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Eine Tragödie zu Kriegsbeginn

Drei Tage im September
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»Edith Lustig schlendert über das Promenadendeck des britischen Oceanliners und hat noch eine Minute zu leben.« S.7

So beginnt Rademachers Buch über den Untergang des Passagierschiffs Athenia, mit dem ...

»Edith Lustig schlendert über das Promenadendeck des britischen Oceanliners und hat noch eine Minute zu leben.« S.7

So beginnt Rademachers Buch über den Untergang des Passagierschiffs Athenia, mit dem er ein authentisches Zeitzeugnis über den Beginn des 2. WKs geschaffen hat. Dabei bedient er sich vieler Einzelschicksale und Momentaufnahmen, die diese Tragödie lebendig werden lassen.

1102 Menschen wollen mit der Athenia am 1. September Europa in Richtung Kanada verlassen. Unter ihnen sind amerikanische Touristen, deutsche und österreichische Juden, Verfolgte des Naziregimes, Geschäftsleute, Wissenschaftler und zahlreiche Familien. Das Schiff ist gnadenlos überladen, da alle anderen Passagierschiffe zu Kriegszwecken eingezogen wurden. Nur zwei Tage später wird die Athenia von einem deutschen U-Boot torpediert. Es beginnt ein Kampf ums Überleben.

Rademacher schildert, wie sich die politischen Ereignisse in Europa überschlagen, um Hitlers Einmarsch in Polen zu verhindern. Er zeichnet die letzten Tage vor Kriegsausbruch nach, das Scheitern diplomatischen Bemühungen, sowie Hitlers Überfall auf den Radiosender Gleiwitz.

Im Hauptteil widmet sich der Autor den einzelnen Schicksalen auf der Athenia namentlich. Fast minütlich zeichnet er die Ereignisse vom 1.–4. September an Bord nach. Die panische Flucht auf die Rettungsboote, bei der Familien getrennt werden, die Aufopferung einzelner, die andere zu retten versuchen, aber auch den Egoismus einzelner, die ihrem Nebenmann noch das letzte Hemd entreißen.

Ebenso beschreibt er die bedrückenden Verhältnisse auf dem U-Boot U-30, das im Nordatlantik liegt und auf eindeutige Befehle wartet. Letztlich wird der Kapitän den fatalen Feuerbefehl geben, die zu der Tragödie führen soll.

Rademachers Recherche beruht auf zahlreichen Quellen wie zum Beispiel Journalisten, die mit Überlebenden gesprochen haben, Zeitungsmeldungen, Biografien oder der Dokumentation des Nürnberger Prozesses. Im Mittelteil befinden sich Originalaufnahmen der Athenia und einigen Passagieren.
Die Aufzeichnung der politischen Zuspitzung fand ich persönlich manchmal etwas trocken, um sehr mehr fesselten mich die persönlichen Schicksale, was den Hauptteil spannender machte als einen Krimi. Ich denke, alle Geschichtsinteressierten werden hier voll auf ihre Kosten kommen.

Ein paar Fakten:
• von der 315-köpfigen Besatzung überlebten 296
• 1009 der 1102 Passagiere wurden gerettet
• insgesamt forderte die Tragödie 112 Tote, 27 Männer, 69 Frauen und 16 Kinder

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Veröffentlicht am 17.04.2023

1. Fall für Tamara Hayle

Ein Engel über deinem Grab
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Tamara Hayle hat ihren Job als Polizistin hingeschmissen, um den rassistischen und sexuellen Anfeindungen ihrer Kollegen zu entgehen. Auch von ihrem Exmann DeWayne hat sie sich getrennt, der mit ihr in ...

Tamara Hayle hat ihren Job als Polizistin hingeschmissen, um den rassistischen und sexuellen Anfeindungen ihrer Kollegen zu entgehen. Auch von ihrem Exmann DeWayne hat sie sich getrennt, der mit ihr in 5. Ehe verheiratet war, ein notorischer Fremdgänger ist und ständig Ärger anzieht. Vor 5 Jahren sich die alleinerziehende Mutter von Jamal, 14, als erste schwarze Privatdetektivin selbstständig gemacht und hält sich geradeso über Wasser.
Obwohl sie am liebsten nichts mehr mit ihrem Ex zu tun haben will, bittet DaWayne sie um Hilfe. Laut Polizei ist sein Sohn Terrence an einer Überdosis gestorben, doch DeWayne glaubt nicht daran, denn es ist nicht der erste seiner Söhne, der getötet wurde – und wird auch nicht der letzte sein. Tamara hat letztlich keine Wahl, da sie um das Leben ihres gemeinsamen Sohnes fürchtet.

Zwei Gründe hätten beinahe dazu geführt, dass ich das Buch abgebrochen hätte – nur gut, dass ich es nicht getan habe. Zum Einem waren da die vielen Exfrauen DeWaynes samt Söhnen, deren Namen und Geschichten ich lange nicht auseinanderhalten konnte. Das andere war die Tatsache, dass Tamara eine Vorliebe für Männer mit einer gefährlichen Aura hat. Sprich, sie fühlt sich von Basil, einem impulsiven Schläger angezogen, das machte sie zu Beginn nicht unbedingt sympathisch. Nach etwas 100 Seiten nimmt das Buch aber Fahrt auf und entwickelt sich zu einem guten, unterhaltsamen Krimi.

Die Autorin zeichnet ein gelungenes Gesellschaftsporträt einer schwarzen Community Anfang der 90er Jahre, bevor es Google und Handys gab. Das Buch wurde 2021 bei Diogenes neuaufgelegt. Ich denke, die anderen Teile der Reihe werde ich sicher auch lesen.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Ein unterhaltsamer Gauner

Allmen und die Libellen
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Johann Friedrich von Allmen (“Die Betonung liegt auf dem ‘A’!”) nennt sich selbst einen »Lebenschwänzer«. In einer täglichen Arbeit sieht der exaltierte Privatier und selbstgefällige Dandy keinen Sinn, ...

Johann Friedrich von Allmen (“Die Betonung liegt auf dem ‘A’!”) nennt sich selbst einen »Lebenschwänzer«. In einer täglichen Arbeit sieht der exaltierte Privatier und selbstgefällige Dandy keinen Sinn, daher ist es kein Wunder, dass er sein millionenschweres Erbe auf ein Minimum geschröpft hat. Die Villa samt Kunstsammlung längst verscherbelt, wohnt er nun im Gärtnerhaus, zusammen mit seinem guatemaltekischen Butler Carlos, der illegal im Land lebt und Mädchen für alles ist.
Doch Allmen ist nicht bereit, auf luxuriöse Annehmlichkeiten im Leben zu verzichten, lässt er überall anschreiben.

Regelmäßige Antiquariatsbesuche, in die er sich natürlich standesgemäß mit dem Taxi chauffieren lässt, sind nicht nur seiner Liebe zur Kunst geschuldet. Meist fällt ihm der eine oder andere Kunstgegenstand in die Tasche, den er bei Tanner, einem diskreten Antiquitätenhändler zu Geld macht, um seine Gläubiger zufriedenzustellen.
Ein recht penetranter Gläubiger sitzt ihm aber im Nacken und Allmen muss seinen Einsatz erhöhen. Als er sich unvermittelt in einem Verbrechen wiederfindet, weiß er auch hier, Profit für sich herauszuschlagen. Aus der Not entwickelt sich eine recht zweifelhafte Geschäftsidee.

Mit Allmen hat der schweizer Bestsellerautor Martin Suter einen außergewöhnlichen Charakter geschaffen, der hier im 1. Teil der Allmen-Reihe ausführlich mit all seinen Eigenheiten vorgestellt wird. Detailliert ausgefeilt, nimmt er auf amüsante Weise die Eigenarten der Möchtegernreichen auf den Arm und zeigt damit einmal mehr, welch brillanter Menschenkenner er ist. Virtuos, in gewohnt stilistischer Brillanz präsentierte Suter 2011 seinen ersten Krimi, dessen Spannung auf leiser Flamme köchelt, aber sehr lesenswert ist.

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