Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.11.2024

WG wird zur Wahlfamilie

Wohnverwandtschaften
0

Als Zahnärztin Constanze nach der Trennung von ihrem Freund schnell eine neue Unterkunft braucht, zieht sie in die WG des reiselustigen Rentners Jörg, der Schauspielerin Anke und des lebenslustigen und ...

Als Zahnärztin Constanze nach der Trennung von ihrem Freund schnell eine neue Unterkunft braucht, zieht sie in die WG des reiselustigen Rentners Jörg, der Schauspielerin Anke und des lebenslustigen und stets optimistischen Murat. Nur vorübergehend, ist sie überzeugt. Sie ist schließlich schon eine Weile aus dem Studentinnenalter raus, die WG ist zweckmäßig und kostensparend, gerade im teuren Hamburg, wo günstige Wohnungen eher Mangelware sind. Doch der Titel von Isabel Bogdans Roman "Wohnverwandtschaften" macht schon klar: es kommt anders.

Aus Fremden werden Freunde, aus Freunden eine Wahlfamilie. Auch wenn sich manches erst einmal einspielen muss. Anke freut sich einerseits, nicht mehr die einzige Frau zu sein, fühlt aber auch Eifersucht, als sie vermutet, dass Constanze und Murat eine gemeinsame Nacht verbracht haben. Gerade, weil sie in ihrem Beruf mit 50 plus plötzlich nicht mehr gefragt ist mit Rollen. Die finanziellen Probleme sind da nur ein Aspekt, auch Ankes Selbstwertgefühl bricht zusammen.

Zur Wahlfamilie werden die Jüngeren auch für Jörg, den verwitweten Wohnungsbesitzer. Sein Sohn und dessen Familie leben in Südfrankreich, da sieht man sich nicht so oft. Und bekommt auch nicht mit, was vor allem Constanze und Anke zunehmend auffällt: Jörg wiederholt sich oft, wird vergesslich. Ist er einfach nur zerstreut, oder steckt mehr dahinter? Murat, der sorglose Sonnenschein der WG, spielt die Sorgen der beiden herunter, bis die Auffälligkeiten offensichtlich werden. Und auch Jörg, anfangs genervt von den Vorschlägen der Mitbewohnerinnen, sich doch mal untersuchen zu lassen, merkt, dass etwas nicht mehr stimmt.

Leicht geschrieben, aber mit ernsten Tönen, geht es in Bogdans Buch um Beziehungsprobleme, Altersdiskriminierung und Demenz, aber auch um Freundschaft, Fürsorge, Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Die Balance zwischen Humor und Ernst wird gut gehalten. Dabei werden die kurzen Kapitel aus der Perspektive jeweils eines der WG-Bewohner, manchmal auch als Beschreibung der Gedanken und Gefühle aller geschildert. Unsentimental und warmherzig macht Bogdan ihre Leser*innen zu Mitbewohnern der WG, die ich gerne durch das Buch begleitet habe.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2024

literarischer Reisebericht aus dem Osten Afrikas

In die andere Richtung jetzt
0

Navid Kermani hat sich aufgemacht in den Osten Afrikas, von Madagaskar bis in die Nuba-Berge des Sudan, auf der Suche nach Kultur und Traditionen der Völker dieser Länder, um zu beobachten, wie sich der ...

Navid Kermani hat sich aufgemacht in den Osten Afrikas, von Madagaskar bis in die Nuba-Berge des Sudan, auf der Suche nach Kultur und Traditionen der Völker dieser Länder, um zu beobachten, wie sich der Klimawandel auf die Menschen dort auswirkt, zugleich reflektierend: Das Erbe des Kolonialismus, und was es heute für afrikanische Identitäten heißt. "In die andere Richtung jetzt", die Buchform einer Reportagereise für die "Zeit", beschreibt diese Reise.

Kermani wollte ganz offensichtlich nicht als alter weißer Mann daherkommen, um mal den beliebten Kampfbegriff zu verwenden. Er bemüht sich um Sensibilität, nähert sich nachdenklich-behutsam Menschen und Ländern: Madagaskar, Mosambik, Komoren, Tansania, Kenia, Äthiopien und schließlich Sudan. Er hat viele Bücher gelesen und Narrative kennengelernt, er reflektiert, denkt auch immer darüber nach, wie er denn wohl wirkt, aus postkolonialer Perspektive. Das ist alles politisch höchst korrekt, aber vor lauter Angst, in ein vermeintliches Fettnäpfchen zu treten, eben auch ein bißchen verkrampft.

Wäre Kermani ein bißchen spontaner auf die Menschen zugegangen, denen er im Laufe seiner Reise begegnete, hätte er gemerkt: Begegnungen auf Augenhöhe sind möglich auch ohne ständig koloniale Altlasten zu schultern. Die koloniale Ära ist für die meisten Afrikaner*innen angesichts der jungen Bevölkerung ziemlich graue Vorzeit, die mit ihrem Leben nichts mehr zu tun hat. Und so manches Thema, das in den USA im Rahmen von black history and culture und in einem Teil der afrikanischen Diaspora in Europa (akademisch, politisch bis aktivistisch) eine Rolle spielt, für die Menschen in Afrika kein Thema ist. Die haben nämlich ganz andere Probleme.

Spannend ist sein Buch trotzdem, gerade auch aufgrund der dort geführten Gespräche mit Künstlern, mit Naturschützern, mit Musikern, mit denen, die kulturelle Tradition bewahren und gleichzeitig neues schaffen, das weit über gefälligen Afropop hinausgeht. Dort, wo sich etwa Musik-Aficionados über Rhythmen begegnen, entwickelt er sich dann auch, der direkte, unverkrampfte Umgang, der manchmal vor lauter historisch-politischem Bewusstsein so schwer scheint.

Der Konflikt in Tigray mit seinen Menschenrechtsverletzungen und die Schönheit der Riten der äthiopischen Kirche, die Suche nach dem deutschen Kolonialerbe in Tansania, die Nöte der Fischer am Indischen Ozean angesichts von Klimawandel und Überfischung, Korruption und Zukunftssorgen - "In die andere Richtung jetzt" beschreibt auch die Probleme jenseits der Naturschönheiten Ostafrikas. Vor allem für Menschen, die bisher nur das Bild von klassischen Safariparadies vor Augen hatten, gibt es hier manche Erkenntnis.

Veröffentlicht am 05.11.2024

Ermtitlungen auf hoher See

Kein Land in Sicht
0

Als Sarah Peters verkatert und mit massivem Filmriss - sie kann sich zunächst nicht einmal an ihren Namen erinnern - in einer Kajüte auf hoher See aufwacht, ist ihr schnell klar, dass das nicht so recht ...

Als Sarah Peters verkatert und mit massivem Filmriss - sie kann sich zunächst nicht einmal an ihren Namen erinnern - in einer Kajüte auf hoher See aufwacht, ist ihr schnell klar, dass das nicht so recht ihr Tag ist. Während langsam die Erinnerung wiederkommt, dass sie als Kriminalkommissarin im Undercover-Einsatz unterwegs ist, lauert auch bald die nächste Erkenntnis - richtig seefest ist sie nicht, Panikattacken kommen auf, aber sie muss dennoch lächeln und gute Laune verbreiten, denn sie ist offiziell als Animateurin an Bord. Doch wo ist eigentlich ihr Kollege? und hat der Filmriss etwas mit den Ermittlungen gegen einen Schleuser zu tun, der mit Menschen- und Organhandel zu tun hat?

So weit der Start von "Kein Land in Sicht" von Christina Pertl. Das Buch soll zugleich Beginn einer Reihe sein. Cover und Klappentext haben mich neugierig gemacht, das Setting einer Kreuzfahrt fand ich interessant, gewissermaßen locked room setting auf dem Mittelmeer. Das Thema Menschenhandel ist ebenfalls aktuell und versprach spannende Lektüre.

Allerdings hat das Buch trotz des viel versprechenden Ansatzes einige ausgesprochene Schwächen. Zum einen hält es die Autorin in vielen Teilen sehr melodramatisch, für meinen Geschmack too much, zum anderen lassen ihre Figuren Tiefe vermissen. Wer der Schurke an Bord ist, war ziemlich früh klar, insofern wenig Überraschungen. Einiges war schlichtweg unglaubwürdig, wenn auch dem dramaturgischen Faden geschuldet. Da wird denn mal eben, um dem gehijackten Polizisten einen Dialogpartner zu geben, ein deutschsprachiges eritreisches Flüchtlingskind in die Handlung eingefügt. Ja klar, sicher doch.

Mein Fazit: Kann man sicher mal schnell lesen, aber leider trotz interessantem Ansatz nicht voll überzeugend.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.11.2024

Frau ohne Erinnerung

Kanadische Jagd
0

Mit seinem Detective John Cardinal in der kanadischen Algonquin Bay hat Giles Blunt einen interessanten Protagonisten geschaffen: Ein Kleinstadtpolizist in der kanadischen Provinz, der sich mit vergangener ...

Mit seinem Detective John Cardinal in der kanadischen Algonquin Bay hat Giles Blunt einen interessanten Protagonisten geschaffen: Ein Kleinstadtpolizist in der kanadischen Provinz, der sich mit vergangener Schuld und der Sorge um seine bipolare Frau herumschlägt. Da kann das Privatleben schon mal gewaltig von der Arbeit ablenken. Spielte der letzte Fall von Cardinal und seiner frankokanadischen Kollegin Lise Delorme im eisigen Winter, ist nun Frühling an der Algonquin Bay - mit dazugehöriger Mückenplage. Wie schon in den vorangegangenen Bänden sorgt Blunt mit Landschafts- und Naturbeschreibungen dafür, dass auch die ferne Szenerie an den Großen Seen ihre Rolle im Buch spielt.

Cardinal und Delorme haben in "Kanadische Jagd" mit einem Verbrechensopfer zu tun, das zwar lebt, aber als Augenzeugin vorerst nicht zu gebrauchen ist: Die junge Frau, die mit einer Kugel im Kopf gefunden wurde, hat keine Erinnerung daran, wer sie ist und warum jemand sie umbringen wollte. Als obendrein eine Leiche auftaucht, ist diese in einem ausgesprochen üblen Zustand. Sadistischer Täter oder Ritualmord? Und wer ist der selbsternannte Schamane, der den Menschen in Algonquin Bay einerseits Karten legt, um das Schicksal zu erkunden, sich aber auch in den Drogenhandel einmischt und einen Konflikt mit der örtlichen Motorradgang heraufbeschwört?

Lange tappen Cardinal und Delorme im Dunkeln, denn auch als ihr Schützling das Gedächtnis allmählich zurückerlangt, verrät die junge Frau nicht alle ihre Geheimnisse. Schnell zeigt sich, dass blutsaugende Mücken nicht das einzige Problem dieses Frühjahrs sind - und obendrein scheint Cardinals Frau auf den nächsten manisch-depressiven Schub zuzusteuern, ausgerechnet auf einer Exkursion mit ihren Studenten in Toronto...

Blunt überzeugt mit einem sympathischen und menschlich glaubwürdigen Protagonisten, gerade weil der kein perfekter Mensch ist. Auch die übrigen Mitarbeiter seines Teams sind realistisch gezeichnet. Der Autor verrät den Leser*innen etwas mehr, als er zunächst seinen Ermittlern zugesteht, was die Spannung keineswegs trübt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.10.2024

Verlust und Ankommen als Coming of Age Story

Kein Ort für ein Zuhause
0

In JJ Bolas "Kein Ort für ein Zuhause" steckt vermutlich ein ganzes Stück Autobiographie: Wie sein Protagonist Jean wurde er in Kinshasa geboren und wuchs in London auf. Der Originaltitel "No place to ...

In JJ Bolas "Kein Ort für ein Zuhause" steckt vermutlich ein ganzes Stück Autobiographie: Wie sein Protagonist Jean wurde er in Kinshasa geboren und wuchs in London auf. Der Originaltitel "No place to call home" drückt noch deutlicher die Verlorenheit der Familie aus, die versucht, sich mit unsicherem Rechtsstatus ein Zuhause aufzubauen und eine Identität in der Fremde zu finden.

Bola erzählt einerseits die Coming of Age Geschichte des 16-jährigen Jean, andererseits aber auch die Geschichte von dessen Eltern, die für das Band zur alten Heimat und der Verhältnisse dort stehen. Jean und seine jüngere Schwester Marie stehen für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Der Vater, der in Belgien Medizin studierte, arbeitet zwei Jobs als Sicherheitsmann und Reinigungskraft, die Mutter, die einst ein gehobenes Lyzeum in Kinshasa besuchte, als Hilfskraft in der Cafeteria von Maries Schule. Die Kinder sollen lernen, Leistung zeigen, erfolgreich sein, sie sollen es schaffen im neuen Land.

Diesen Druck spüren viele Kinder aus Einwandererfamilien, die erst noch ankommen. Erst spät erfahren Jean und Marie, dass die Eltern nicht einfach nur Einwanderer sind. Sie sind Flüchtlinge, haben keine Pässe, leben in ständiger Angst vor Ausweisung und sind daher geradezu überangepasst vor Angst, (negativ) aufzufallen.

Einen genauen Hintergrund gibt Bola nicht, aber ich vermute, die Geschichte spielt während der Mobutu-Herrschaft, als die Demokratische Republik Kongo den Namen Zaire trug. Die Andeutungen von Plünderungen und Gewalt auf den Straßen, von den Zuständen in den Gefängnissen, von sexueller Gewalt sind in dem Land ja leider nicht auf eine Ära beschränkt.

Insofern steht die Familiengeschichte zugleich für die große Geschichte von Verlust und Ankommen, von der kleinen Heimat in der Diaspora, in diesem Fall eine kongolesische Kirchengemeinde. Während die Eltern die enge Verbindung zur alten Heimat spüren, erlebt Jean das Schweben zwischen zwei Welten - an der Schule hat er das Gefühl, sich als afrikanischer Junge doppelt beweisen zu müssen und besonders gesehen zu werden. Während seine Schwester und er vor allem für die Mutter aus dem Englischen übersetzen, schwindet seine Muttersprache Lingala immer mehr aus seinem Bewusstsein.

Bola schreibt ohne Sentimentalität oder übertriebene Gefühligkeit, vieles ist tragikomisch, überwiegend aus der Sicht Jeans geschildert, der die meiste Zeit vor allem ein ganz normaler Teenager sein möchte. Der Epilog bringt am deutlichsten zur Sprache, was die Existenz von Flüchtlingen von anderen Migranten und jenen unterscheidet, die nie ihr Zuhause unfreiwillig verlassen mussten: "Wenn du Glück hast, wird Zuhause für dich nie etwas sein, woran dich die Tränen deiner Mutter oder die vor Wut bebende Stimme deines Vaters erinnern.... Zuhause sollte dich niemals brechen, so dass du nie vollständig bist, wohin du auch gehst, eine Hälfte immer dort, wo du sie zurückgelassen hast, und die andere nicht willkommen, wohin du auch gehst. Du bist ein gespaltenes Pendel, beide Hälften in der Luft."

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere