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Veröffentlicht am 13.04.2025

Alles im Fluss

Flusslinien
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„Flusslinien“ von Katharina Hagena, erschienen 2025 bei Kiepenheuer und Witsch, hat mich mit seiner mäandernden Schreibweise und der Zärtlichkeit, mit der hier Figuren durch einen kurzen, aber zentralen ...

„Flusslinien“ von Katharina Hagena, erschienen 2025 bei Kiepenheuer und Witsch, hat mich mit seiner mäandernden Schreibweise und der Zärtlichkeit, mit der hier Figuren durch einen kurzen, aber zentralen Abschnitt ihres Lebens begleitet werden, begeistert.

Protagonistin des Romans ist die gerade volljährige Luzie, die nach einem traumatischen Ereignis während eines Auslandjahres in Australien zurück in Hamburg zunächst nicht wieder ins Leben findet – was nicht nur an Luzie liegt, die noch an der Bewältigung ihres Traumas zu knabbern hat, sondern vor allem auch an ihrem Umfeld, das vollkommen hilflos, teils auch grausam, mit ihr umgeht. Der einzige Mensch, dem Luzie kleine Einblicke in ihr Inneres erlaubt, ist ihre Großmutter Margrit, die in einer Seniorenresidenz nahe der Elbe lebt, über 100 Jahre alt ist – und dafür noch wundervoll fit im Kopf. Luzie hat die Schule abgebrochen, verkriecht sich in einem Schuppen am Elbstrand und geht ihrem Hobby, vielleicht auch ihrer Berufsperspektive, dem Tätowieren, nach. Doch wer Tätowieren lernen will, braucht Menschen, an denen geübt werden kann – und so schlägt Margrit vor, dass Luzie sie tätowieren solle, schließlich ist die Ewigkeit, die einem Tattoo innewohnt, für Margrit ein sehr überschaubarer Zeitraum. Zwischen den beiden steht Arthur, Fahrer der Seniorenresidenz, ein junger Mann, der auch ein Trauma zu bewältigen hat, und der viel Zeit mit einem Metalldetektor am Ufer der Elbe verbringt, auf der Suche nach etwas, das er selbst nicht wirklich beziffern kann, das er aber im Wasser verloren hat. Wir tauchen immer wieder auch ab in die Vergangenheit der ganzen zugehörigen Familien, in Freundes- und Feindesbeziehungen, in die Erfahrung des Alterns, des Jungseins – und des Aushaltens von so viel Leben.

Strukturell ist das Buch nach Tagen aufgeteilt und nach den Menschen, aus deren Perspektive wir auf die Tage schauen. Die Elbe, der Fluss, zeigt sich hier vor allem von ihrer morbiden Seite, atmosphärisch sehr stark gegriffen, und auch hier ist, wie in anderen aktuellen Publikationen, die Vertiefung der Fahrrinne Thema. Der immer weiterführende Eingriff des Menschen in die Natur, er hat immer einen Backlash, dafür ist die Elbe ein wirklich gutes Beispiel. Von Anfang an wehen die Themen Tod und Verlust durch das Buch, das Altern und Erinnern, die Spuren, die das Leben in den Menschen schreibt und der Mensch in die Welt, Verlust, Traumatisierung, Einsamkeit, die Unfähigkeit zu Kommunikation über das Eigentliche, aber auch Abenteuergeist, Lebenshunger, Leidenschaft. Und eher beiläufig aber nicht minder sichtbar: historische Ereignisse, Familienstrukturen, Naturschutz im Elbe-Gebiet, der Römische Garten Hamburgs und seine Entstehungsgeschichte, die Emanzipation der Frau im Laufe der Zeit, der spirituelle Gehalt von Tattoos, die Frage nach etwas, das die Zeit überdauert. Und über allem schwebt die Stille in ihren vielen Gesichtern, mir gefällt das richtig gut.

Die Figuren sind mir alle sehr sympathisch, es sind versehrte Einzelgänger:innen, die sich da zusammenfinden zu einer Zweckgemeinschaft, die unterfüttert ist von vorsichtiger Nähe und Vertrauen. Die Autorin schreibt flüssig und klar, viele Beschreibungen machen die Szenerie und die Menschen lebendig, manchmal gibt es aber einen Hang zu etwas sehr großer Ausführlichkeit, die bei dem sowieso eher langsamen Erzähltempo zur Herausforderung werden kann. Aber das wird aufgewogen von sehr vielen sprachlich großartigen Betrachtungen, die immer wieder aufzeigen, wie sehr unsere Sprache auch patriarchal geprägt ist. Denn ganz klar ist dieses Buch auch aus einer feministischen Perspektive geschrieben. Und nimmt viele aktuelle Themen unserer Zeit beiläufig auf, ohne sie zu vertiefen, so wie Alltag stattfindet, er ist einfach da.

Mir gefällt die Symbolik des Tätowierens in diesem Buch ausnehmend. Das Leben, das noch einmal in den Körper eingeschrieben und dadurch irgendwie festgehalten wird, das Leben, dessen Linien die Enkelin dadurch nachfährt und erfährt, der Körper, der dieses Leben noch einmal spürt, bevor er geht, die Befreiung, die beide dadurch erfahren, die Inspiration, die Luzie für ihr eigenes Leben übernimmt, die gemeinsame Handlung, die Reden und Schweigen ermöglicht, das alles ist enorm gut gegriffen.
Ein großer Kritikpunkt bleibt, der dieses so schöne Buch dann, neben vielleicht doch etwas viel Phantastik und Ausführlichkeit in Seitensträngen der Story, doch einen Stern kostet: Hier schreibt wieder eine Autorin so konsequent gegen das Patriarchat anschreibt – um dann doch die Protagonistin am Ende durch einen Mann „zu retten“. Und ich finde das falsch, unnötig und ärgerlich. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn Luzie nur aus sich heraus und eventuell aus der Beziehung zu den vielen starken Frauen, die ihre Wege kreuzen, die nötige Kraft gefunden hätte, ihren Weg zu gehen.

Insgesamt habe ich aber ein sehr schönes, fließendes Leseerlebnis gehabt, ein Buch, gemacht für leichte Sommerabende, mit nahbaren Figuren, toller Atmosphäre und viel Nachdenklichkeit darüber, wie wir mit unseren Alten als Gesellschaft umgehen. Lesen und dann mal dem Römischen Garten in Hamburg einen Besuch abstatten!

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Veröffentlicht am 07.04.2025

Krank oder gesund?

Geht so
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„Geht so“ von Beatriz Serrano, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, fängt extrem stark an und verliert sich nach hinten raus leider im Nirgendwo – und macht somit seine Entwicklung genau gegenläufig zur Protagonistin ...

„Geht so“ von Beatriz Serrano, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, fängt extrem stark an und verliert sich nach hinten raus leider im Nirgendwo – und macht somit seine Entwicklung genau gegenläufig zur Protagonistin durch.

Aber von vorn, ich liebe das Cover. Ein so symbolisches Bild mit Strahlkraft, eigentlich muss gar nichts mehr gesagt werden, die Emotionen, um die sich das Buch dreht sind damit einfach perfekt gegriffen.
Die Protagonistin Marisa, Inhaberin eines Bullshit-Jobs in einer Madrider Werbeagentur ist irgendwann sehr schleichend falsch abgebogen in ihrem Leben. Nicht untypisch, eine Sache studieren, die einen immerhin noch so halbwegs interessiert, hinterher erstaunt feststellen, dass ein Studium noch kein Beruf ist (auch ein immer häufigeres Phänomen) und dann in der Generation Dauerpraktikum ankommen. Immerhin hat sie es aus den Praktika heraus geschafft, doch nun quält sie sich jeden Tag damit, dass ihre Arbeit komplett ums Leere kreist, die Sinnfrage steht fett im Raum. Von außen betrachtet wäre die Lösung ihres Problems ganz einfach: Weniger Austern, weniger Ansprüche an die monetäre Ausstattung ihres Lebens und stattdessen einen Job, der ihrem Dasein Sinn gibt. Doch Marisa hängt fest. Während die Männer um sie herum zwar stehengebliebene weiße Patriarchen (aber mit sich zufrieden) oder driftende Lebemänner ohne Fokus (aber mit sich zufrieden) sind.
Hier schreibt und beschreibt Serrano (ist das ein Künstlername? Wie kann die Handlung in Madrid spielen und die Autorin heißt wie der berühmte Schinken, haha, ich liebe es) einfach richtig gut. Dieses langsame Sterben von innen, jeder Tag eine Qual noch bevor er beginnt, nicht weil die Arbeit so schrecklich ist, sondern weil Arbeit überhaupt so schrecklich ist. Ich kann es sogar als Mensch mit sinnstiftender Arbeit sehr fühlen. Irgendwann fühlt sich die Mühle endlos an und die Fragen an dieses System nehmen. Wenn Arbeit immer abstrakter ist, so abstrakt, wie die absurde Jobbezeichnung, dann bleibt am Ende des Tages nie ein sichtbarer Erfolg. Wenn mensch dann noch herausfindet, dass diese Arbeit eigentlich auch in einer Stunde statt in acht getan werden kann, dann ist es kein Wunder, wenn der Verfall beginnt. Serrano beschreibt treffend den immer weiter gehenden Absturz, den zunehmenden Griff zu Psychopharmaka und Alkohol, Ersatzhandlungen, immer weiteres Tricksen, durch das Tricksen immer mehr Imposter-Syndrom, noch weniger Selbstwert und Fokus, es gibt kaum noch ein Entkommen. Ich mag, wie die Autorin viele feministische Themen einstreut, wie sie aber auch zeigt, dass selbst ein weibliches Arbeitsumfeld nicht zu Solidarität führt. Auch das Thema Mutterschaft in der Leistungsgesellschaft wird angerissen, das ich persönlich auch wirklich wichtig finde. Der Mensch, der immer mehr zur Ware wird. Und dann ist da noch die Sache mit Rita...
Bis ungefähr zur Mitte des Buches schreibt Serrano so fluffig und herzlich ironisch, dass ich schon sehr oft vor mich hin grinsen musste – und ich mag es, wenn ernste Themen einem etwas lockerer verkauft werden, und hier wurde ich bestens unterhalten. Zeitgleich denke ich aber, dass die Problematik auch sehr elitär ist, da sie vor allem auf Akademiker:innen, die keine wirklichen Produkte mehr herstellen, und deren Arbeit vollkommen abstrakt ist, zutreffen dürfte. Einmal mehr also eigentlich ein Wohlstandsproblem, das unsere kapitalistisch-patriarchale Leistungsgesellschaft künstlich erzeugt und das ja eigentlich leicht zu lösen wäre – wer braucht schon die Weihnachtskampagne für Lippenstift und Wimpernzange 3005. Kein Wunder also, dass Marisa an Bore-Out leidet. Da dieses Phänomen tatsächlich zunehmend verbreitet ist, es aber dennoch noch nicht viele Menschen kennen, ist das Buch vielleicht doch wichtig und richtig an seinem Platz.
Der zweite Buchteil zeigt sich leider deutlich schwächer als der erste, irgendwie fehlte mir zunehmend der Fokus und ich hatte mir von der Entwicklung und der Auflösung auch mehr erwartet. Die Autorin bedient sich an Klischees und verliert die Feinsinnigkeit, mit der sie im ersten Teil so wunderbar beobachtet und analysiert. Vieles wird nicht zuende gedacht und das Finale des Romans lässt mich relativ ratlos zurück, der Clou enthält für mich keine Lebensrealität – und gerade das war die Stärke der ersten Hälfte. Das Buch hat mich leider eher verloren. Ich habe das Gefühl, hier wusste die Autorin selbst nicht ganz, wo sie hin möchte.
Also sehr gemischte Gefühle, ich würde empfehlen, einfach selbst hineinzuschnuppern, denn das Grundthema ist wirklich wichtig: Wenn man an einem kranken System leidet, ist man dann krank oder gesund?

Ein großes Dankeschön an lesejury.de und Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 26.03.2025

sonne scheint erde dreht sich

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
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„bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“, der autobiographische Debutroman von Oliver Lovrenski, erschienen 2025 bei Hanser Berlin, ist das eindrückliche Dokument einer Einwandererjugend auf der ...

„bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“, der autobiographische Debutroman von Oliver Lovrenski, erschienen 2025 bei Hanser Berlin, ist das eindrückliche Dokument einer Einwandererjugend auf der Straße und begeistert vor allem formal und sprachlich.

Ein großes Shout-Out zunächst an die Übersetzerin Karoline Hippe, der es einfach genial gelingt, den von Lovrenski perfekt eingefangenen und zugespitzen Slang der Jugendgangs ins Deutsche zu übertragen – was für Meisterleistung.

Lovrenski erzählt von Ivor und Marco, den Brüdern durch Gelegenheit, die in den Straßen Oslos zwischen Drogen, Kriminalität, Gefahr und permanenter Brutalität, aber auch voller Freundschaft, Solidarität und Hoffnung auf ein besseres Leben aufwachsen, immer wieder am Rand der Existenz und doch immer wieder kurz auch fast dabei, das Milieu verlassen zu können. In schnellen, kurzen Clips, ein Buch wie der Swipe auf TikTok, in gedrängter, gehetzter Sprache, die nicht umsonst auf groß und klein verzichtet, oft hart und fast wie eine Fremdsprache, dann immer wieder sehr poetisch und zart, führt uns Lovrenski durch die Jugend einer wild zusammengewürfelten Truppe Heranwachsender, die mit jedem Tag tiefer abrutschen – bis der erste ganz abrutscht und die Unschuld endgültig verloren ist.

Der Beat peitscht durch dieses Buch wie die Wut durch Ivor, Marco, Jonas und all die anderen Mitglieder der Wahlfamilie, die einfach unter den falschen Voraussetzungen geboren wurden und kaum eine Chance haben, sich aus diesen zu befreien. Wir reden viel von Durchlässigkeit – doch der Roman zeigt eindrücklich, dass diese nichts hilft, wenn ein Umfeld nicht mitspielt. „die welt ist ungerecht, stell dir mal vor ein kleines unglück kann so viel scheiße anrichten“ – und vielleicht ist dieses unglück manchmal einfach die geburt. Lovrenski schafft dabei das Kunststück, durchweg so viel Liebe für seine Charaktere durch das Buch scheinen zu lassen, dass es den Lesenden kaum gelingen wird, nicht mit ihnen mitzuleiden, auch wenn diese eigentlich alles tun, um uns das Gegenteil empfinden zu lassen.

Es ist ein schonungslos ehrlicher Roman, der alle Wunden unserer Gesellschaft offenlegt. „sonne scheint erde dreht sich“ – das Leben geht weiter, ob wir es leben wollen oder nicht. Kein Entkommen, keine Gnade. Und zwischen Täter und Opfer manchmal nicht mehr viel Unterschied.

Lovrenski hat dabei in seinem Buch an alles gedacht und schenkt deshalb denen unter uns, die mit lowkey disbattle nicht so vertraut sind, ein Glossar am Ende des Buches. G der Mann. Empfehlung geht raus und nächstes Buch wird dringlich erwartet, sehr spannend, was passieren wird, wenn diese Stimme sich vielleicht einem nicht-autobiographischen Thema widmet. +10.000 Aura Starpotenzial.

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Veröffentlicht am 23.03.2025

Verlorengegangen im Ethik-Dschungel

Dunkle Momente
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„Dunkle Momente“ von Elisa Hoven, erschienen 2025 im S. Fischer Verlag, kann für mich leider nur im Mittelfeld der Frühjahrsneuerscheinungen mitspielen. Hoven stellt uns hier ein solides Buch vor, auf ...

„Dunkle Momente“ von Elisa Hoven, erschienen 2025 im S. Fischer Verlag, kann für mich leider nur im Mittelfeld der Frühjahrsneuerscheinungen mitspielen. Hoven stellt uns hier ein solides Buch vor, auf der Grenze zwischen Erzählung und Episodenroman tanzend, das zwar grundsätzlich gut geschrieben und sauber konstruiert ist, mich aber leider zu keinem Zeitpunkt überraschen und in den Bann ziehen konnte.

Protagonistin des Romans ist Eva Herbergen, die als Strafverteidigerin immer wieder mit schwierigen Fällen konfrontiert ist und aufgrund eines Traumas dabei in ihren Dunklen Momenten immer wieder die Professionalität verliert und deshalb weit über ihren eigentlichen Auftrag hinaus in ihre Fälle eingreift bzw. sich hineinziehen lässt. Das Buch ist unterteilt in neun solcher Fälle, erst der letzte wird Aufschluss darüber geben, warum Eva sich verhält wie sie sich verhält. Das ist kein Spoiler, denn Hoven wird nicht müde am Ende eigentlich jeden Falles auf den Fall „Stefan Heinrich“ zu verweisen – und das Inhaltsverzeichnis zeigt uns diesen als neunten und abschließenden Fall des Buches auf.

Die neun Fälle haben für mich persönlich nichts Neues erzählt, was daran liegen kann, dass ich mich als Theaterschaffende permanent mit den Grenzen des menschlichen Handelns beschäftige, so waren mir viele der Themen sehr vertraut. Auch die Fragen, für die sich Hoven zu Recht interessiert, wie schnell kommt der Mensch mit Moral an seine Grenzen, gibt es Recht und Unrecht denn überhaupt und wer legt das fest, rechtfertigt Leid, das man selbst erfahren hat, das Leid, das man anderen antut, darf man Menschen das Recht auf Wahrheit und Erkenntnis verweigern, wenn man glaubt, dass sie mit den Erkenntnissen nicht gut umgehen könnten, ist Tötung auf Verlangen auch dann okay, wenn man selbst einen Lustgewinn daraus zieht – um nur einige der Fragen zu nennen – diese Fragen sind für mich leider auch ein alter Hut, und Hoven macht einen Fehler im Grundkonstrukt, der bei mir dazu führt, dass die Antwort auf die Fragen irrelevant wird.

Denn die Strafverteidigerin Eva Herbergen ist eine Figur, die dringend therapiebedürftig ist und jegliche professionelle Distanz, die sie in ihrem Job bräuchte, längst verloren hat. Da dieses so ist, kommt zum einen keinerlei Spannung auf, alle Fälle verlaufen nach dem gleichen Muster, so dass wir nach den ersten zwei Fällen immer schon wissen, wie der Verlauf sein wird. Zum anderen werden die Fragen nie bei klarem Verstand gestellt, sondern sind immer durch ein Trauma (das ich persönlich auch nicht nachvollziehen konnte) geprägt, weshalb ich Eva Herbergen leider nicht ernst nehmen konnte. Die einzige Frage, mit der ich aus diesem Buch ging, war die, wie wir unser Rechtssystem davor schützen können, dass labile Personen auf verantwortlichen Positionen arbeiten. Insgesamt habe ich das Buch auch als sehr redundant erlebt.

Positiv möchte ich festhalten, dass es in der Leserunde, in der ich das Buch las, auch andere Stimmen gab, die fanden, durch die Fälle und die Position der Verteidigerin würde eine Debatte über Recht und Ethik angestoßen. Mir selbst ging das nicht so, aber ich möchte dem Buch gern zugutehalten, dass es diese Perspektive gibt. Hoven schreibt auch gut und flüssig, ich finde ihr dramaturgisches Grundkonzept nicht sinnvoll, in diesem schreitet sie aber konsequent und logisch voran. Es mag also meiner Bubble und meiner eigenen Biografie geschuldet sein, dass dieses Buch bei mir so gar nicht geklickt hat. Der Vergleich zu Büchern des Autors Ferdinand von Schirach drängt sich auf, die erzeugen bei mir etwas ganz anderes, da dieser nüchtern und neutraler schreibt.

Ein Lob noch für das Cover! Dieses ist schlicht, aber eindringlich und das Motiv ergibt am Ende des Romans noch einmal einen tieferen Sinn. Wer sich also vielleicht noch nicht so viel mit der Frage nach Recht und Unrecht und den Grenzen von Ethik auseinandergesetzt hat, könnte hier ein Buch zum Lesen gefunden haben. Mich selbst hat es leider nicht überzeugt.

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Veröffentlicht am 21.03.2025

Go on and cry, Ophelia

Stromlinien
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„Stromlinien“, der neue Roman von Rebekka Frank, erschienen 2025 im S. Fischer Verlag, hat mich vom ersten Moment an gefesselt und bis zum Ende nicht losgelassen.

Rebekka Frank erzählt uns die Geschichte ...

„Stromlinien“, der neue Roman von Rebekka Frank, erschienen 2025 im S. Fischer Verlag, hat mich vom ersten Moment an gefesselt und bis zum Ende nicht losgelassen.

Rebekka Frank erzählt uns die Geschichte der Zwillingsschwestern Jale und Enna, die darauf warten, dass nach 38 langen Jahren in Haft ihre Mutter Alea entlassen wird – doch als die Stunde Null endlich eintritt, taucht nicht nur Alea nicht auf, nein, auch Jale ist verschwunden. Enna bleibt allein zurück, geht auf Spurensuche – und gerät dabei in einen Strudel, der den Strömungen der Fahrrinne in der Elbe nichts nachsteht und bis weit in die Vergangenheit führt.

Die Handlung spielt auf drei Zeitebenen 2023, 1983/84 sowie 1923. Diese sind gut sortiert und Überschriften sowie Personal lassen die Lesenden den Zeitsprüngen leicht folgen. Die Haupthandlung liegt schwerpunktmäßig im Jetzt des Jahres 2023. Immer wieder eingeschoben sind zunächst rätselhafte Passagen ohne Jahresangabe in Kursivdruck. Frank schreibt großartige, nahegehende Figuren und Begegnungen, extrem atmosphärisch bringt sie uns die Elbmarschen vor Augen mit immer wieder wundervollen Landschaftsbeschreibungen, die Handlung ist durchweg packend und oft zerstörerisch, immer mehr ist man mit gefangen mit den Menschen, die durch die Stromlinien mäandern.

Apropos Stromlinien: Auch Optik und Haptik des Buches begeistern einfach, das Cover passt perfekt und die sichtbaren Stromlinien lassen sich auch erfühlen – wunderschön. Sehr elegant auch, wie Frank mit dem Ophelia-Motiv spielt, das auf bedrückende Weise Sinn ergibt.

Es ist ein Roman, der sehr tief in Beziehungen und Familien blickt und dabei durchweg Komplexität aufzeigt. Einfach superdicht geschrieben und konstruiert, es hat mich sehr berührt, irgendwo ganz tief.
Das Nachwort der Autorin hat mich dann noch einmal umgehauen, wie viel echte Historie in diesem Buch steckt, das macht es noch einmal besonders hart. Das war insgesamt ein sehr rundes und großartiges Leseerlebnis, genau wie ich es mir erhofft hatte, auch wenn es kleinere Ungereimtheiten gibt – die verzeiht man jedoch gern und wünscht sich zum Ende des Buches, es hätte noch mehr Seiten, damit man es nicht beenden muss. Irgendwie gerät man beim Lesen quasi in die Fahrrinne der Elbe und dann zieht es einen rein und man kommt nicht mehr raus. Unbedingte Empfehlung, sich der Strömung hinzugeben.


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