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Veröffentlicht am 15.02.2020

Außergewöhnlich und außergewöhnlich gut

Milchmann
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Milchmann ist das Werk der irischen Autorin Anna Burns. Sie schreibt über die Zeit der großen Konflikte in ihrer Heimat, wo Mord und Totschlag an der Tagesordnung lagen. Die Rede ist oft von „Wir“ und ...

Milchmann ist das Werk der irischen Autorin Anna Burns. Sie schreibt über die Zeit der großen Konflikte in ihrer Heimat, wo Mord und Totschlag an der Tagesordnung lagen. Die Rede ist oft von „Wir“ und „die da drüben“, wobei „drüben“ nur die andere Straßenseite war. „Unsere“ Religion und „deren“ Religion bietet ebenfalls immer wieder Stoff zu tödlichen Auseinandersetzungen.

In dem Buch Milchmann beschreibt die Ich-Erzählerin ihr Leben in Irland. Sie berichtet von sexueller Nötigung durch ihren Schwager und der Gerüchteküche ihrer Nachbarschaft. In ihren Augen war es eine „Chefgerüchteküche“, die nicht nur ihr das Leben schwer machten. Die Menschen sind verstört, weil sie, geprägt von dauerhafter Gewalt und sozialen Konflikten, ihr Leben in Belfast fristen. Die Autorin verarbeitet hier eigene Traumen und Erlebnisse und das macht das Buch zu etwas Besonderem. Sie weiß, wovon sie schreibt. Nichts ist übertrieben und, obwohl zuweilen lustig, so blieb mir als Leser das Lachen im Halse stecken.

Die Hauptperson des Buches ist 18 Jahre alt und leidet unter den Familienverhältnissen. Der Vater ist depressiv und muss immer wieder zur langwierigen Behandlung in eine psychiatrische Klinik. Wie es damals wohl noch extremer war als heute, wo wurde die Erkrankung gegenüber der Nachbarschaft geleugnet. Die Mutter verstand nicht, was den Vater belastete. „Man sah doch nichts.“ Die junge Frau ist ebenfalls Opfer von Verleumdung und übler Nachrede. Keiner der Denunzianten hinterfragt den Wahrheitsgehalt der Gerüchte, dabei hätte sie deren Hilfe so sehr gebraucht.

Nein, es ist kein Buch, welches ich einfach mal so locker weg lesen konnte. Es gibt ungewöhnlich lange und verschachtelte Sätze sowie viele neue Wortschöpfungen. Oder haben Sie schon mal etwas von „Vielleicht-Freund“, „Zehnminutengegend“ oder „Bruder zwei“ gehört oder gelesen? Und gerade deshalb packte mich die Freude an außergewöhnlicher Literatur und ich ließ mich auf das besondere Buch ein. Es lohnte sich und ich lernte die Situation der Iren aus einer anderen Perspektive kennen. Nämlich der einer jungen Frau. Erschrecken war für mich, dass der Konflikt noch immer schwelt und der Roman in einer Zeit spielt, die noch gar nicht so lange zurück liegt. Wer sich auf ungewöhnliche Sprache einlässt, wird bei der Lektüre von Milchmann nicht enttäuscht.

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Veröffentlicht am 11.02.2020

Ein Meisterwerk in Sprache und Stil

Goodbye, Bukarest
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Die Autorin Astrid Seeberger war gerade mal 17 Jahre alt als sie ihrer Familie und ihrem Heimatland den Rücken kehrte. Ganz allein zog sie nach Schweden. Warum? Sie verabscheute die Taten der Deutschen ...

Die Autorin Astrid Seeberger war gerade mal 17 Jahre alt als sie ihrer Familie und ihrem Heimatland den Rücken kehrte. Ganz allein zog sie nach Schweden. Warum? Sie verabscheute die Taten der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und wollte nichts damit zu tun haben. Sie ging sogar so weit, dass sie keine Deutsche mehr sein wollt und nahm die Schwedische Staatsbürgerschaft an. In ihrem Buch Goodbye Bukarest gilt nicht Deutschland, sondern Rumänien ihr Hauptaugenmerk.

Die Mutter Astrids erzählte ihrer Tochter immer wieder, dass ihr Bruder, der Onkel Bruno, in Stalingrad vermisst wurde. Sie beharrte darauf, dass er tot sei. Als die Mutter stirbt und Frau Seeberger deren Papiere durchsieht, stößt sie auf ein Schriftstück, welches in ihr einen Wunsch weckt. Sie möchte das Schicksal des Onkels erfahren. Dass er damals in Russland gestorben ist, glaubt sie nicht mehr. Sie macht sich auf die Suche nach Brunos Spuren. Die Reise geht durch einige Länder und das Leben des Onkels wird aus der Sicht von mehreren Menschen erzählt.

Es ist ein berührendes Buch. Es zeigt, was Diktatur bei den Menschen anrichtet und wie dankbar wir sein dürfen, in einer Demokratie zu leben. Hier liegt der Fokus nicht im Erleben des Krieges, sondern der Zeit danach. Was heißt es, ständig bespitzelt zu sein und als Feind des Diktators zu gelten? Welchen Einfluss hat die Kunst im Leben von Menschen und wie können Bilder und Bücher helfen, gefahrvolle Situationen zu meistern? Astrid Seebergers Buch zu lesen, war für mich ein Genuss. Sie schreibt so abwechslungsreich und anschaulich, dass ich Goodbye Bukarest innerhalb weniger Stunden durchlas. Gäbe es mehr als fünf Sterne, dieses Werk hätte es verdient.

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Veröffentlicht am 11.02.2020

"Was vergessen wird, kann sich leicht wiederholen"

Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden
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Es war im Frühjahr 1944 als Hédi Fried mit ihren Lieben deportiert wurde. Mit vielen anderen Juden zwängten die Schergen Hitlers sie in einen Viehwaggon. Das Ziel war Auschwitz und Frau Fried gerade mal ...

Es war im Frühjahr 1944 als Hédi Fried mit ihren Lieben deportiert wurde. Mit vielen anderen Juden zwängten die Schergen Hitlers sie in einen Viehwaggon. Das Ziel war Auschwitz und Frau Fried gerade mal 20 Jahre als. Und die Deportation erfolgte nur, weil sie Juden waren. Sie und ihre Familie. Seit einigen Jahren schweigt Hédi nicht mehr. Sie besucht Schulen und Universitäten, um jungen Menschen ihre Erlebnisse im KZ zu berichten. Ihr Wunsch ist, dass sie dazu beiträgt, dass dieser Part ihrer Geschichte künftig vermieden wird. In dem Buch, welches im #dumontbuchverlag erschien, schrieb sie Fragen auf, die ihr bei den Vorträgen am häufigsten gestellt wurden. Die Antworten darauf sind klar und präzise geschrieben. Nein, sie schreibt ohne Anklage oder Groll gegen die Täter. Der Hass existiert nicht mehr in ihr, sie überwand ihn.

In einem Lehrbuch für Gymnasien gab es im Jahr 1935 diese mathematische Frage: „Wie viele staatliche Kredite könnte man frisch verheirateten Paaren von dem Geld geben, das es den Staat kostet, Behinderte, Kriminelle und Irre zu versorgen?“ Oh ja, im Auftrag Hitlers und seiner Getreuen wurden viele Behinderte getötet. Leider vergessen das heute viele. Es waren nicht nur Juden und Roma, die auf der Abschussliste standen.

Das Buch ist dünn und hat trotzdem so viel Aussagekraft, wie ein Werk mit 1000 Seiten. Frau Fried schreibt ohne Pathos und mitreißend. Ich war erschüttert und musste Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden, immer mal wieder aus der Hand legen. Zu grausam ist das Erlebte. Dennoch, wir alle sollten stets darauf hinweisen, was damals in Deutschland geschah. Niemals schweigen, und wie Frau Fried es schreibt: „Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten.“ Ein sehr wertvolles Buch, das noch viel mehr Aufmerksamkeit verdient.

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Veröffentlicht am 10.02.2020

Der Erzbischof und die Nonne

Die siebte Schwester
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Für mich ist es immer wieder eine Freude, wenn Marion Johanning ein Buch herausbringt. Sie ist eine von wenigen, die über die Geschichte Kölns und Umgebung schreiben. Und das in einer Weise, die mir ausgesprochen ...

Für mich ist es immer wieder eine Freude, wenn Marion Johanning ein Buch herausbringt. Sie ist eine von wenigen, die über die Geschichte Kölns und Umgebung schreiben. Und das in einer Weise, die mir ausgesprochen gut gefällt. In Die siebte Schwester geht es um Tryngen. Sie hat sich für ein Leben im Kloster Weiher entschieden und lernt dort die Heilkunst von ihrer Mitschwester Maria. Als sie hier den Propst Engelbert pflegt und ihn vor dem Tod rettet, eröffnet sich ihr ein ganz neues Leben. Sie wird an den Hof Engelberts gerufen. Der soll bald zum Erzbischof Kölns gewählt werden. Doch, wie überall und jederzeit, Neider gab es auch damals schon. Sie trachten nicht nur nach dem Leben Engelberts, sondern werden auch Tryngen gefährlich.

Der lebendige Stil von Frau Johanning lässt mich stets in die Vergangenheit eintauchen. Auch dieses Buch zog mich in seinen Bann. Es war spannend zu lesen und wie sagt man heute, ein „Pageturner“. Also ein Roman, den ich nicht aus der Hand legen konnte. Die Gegebenheiten im alten Köln und die Zustände in den Krankensälen sind nur ein Teil der aufschlussreichen Erzählung. Wie gut, dass es zu der Zeit Frauen gab, die sich mit Wirkung und Verarbeitung von Kräutern auskannten. Sie retteten vielen Menschen das Leben. Am Schluss des Buches gibt es ein ausführliches Glossar, wo die unüblichen Begriffe erklärt sind. Im Nachwort schreibt die Autorin, welche Fakten sie zum Schreiben des Romans animierten und dass es nicht nur den Erzbischof Engelbert tatsächlich gab. Das Buch ist zwar der Dritte Band der Rhein-Trilogie, kann aber ohne Vorkenntnis für sich alleine gelesen werden.

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Veröffentlicht am 08.02.2020

Tommy Orange legt den Finger in eine Wunde, die nie verheilt

Dort dort
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Ist es eine Tatsache, dass der Ursprung von Thanksgiving wirklich so ist, wie es die Amerikaner uns berichten? Also, dass die Einwanderer friedlich mit den Ureinwohnern zusammensaßen und Speise und Trank ...

Ist es eine Tatsache, dass der Ursprung von Thanksgiving wirklich so ist, wie es die Amerikaner uns berichten? Also, dass die Einwanderer friedlich mit den Ureinwohnern zusammensaßen und Speise und Trank genießen konnten? Und wie geht es den Nachkommen der Natives heute? Was spielt sich in den Reservaten ab? Warum suchen viele von ihnen Trost im Alkohol und anderen Drogen? Das sind Fragen, die ich mir immer mal wieder stelle und aus dem Grund lese ich Bücher zu diesen Themen.

Dort, dort ist ein ganz besonderes Buch. Tommy Orange gehört selbst zu den Nachkommen der Natives und wer, wenn nicht er, kann authentisch über ihr Leben berichten. Er schreibt in dem Buch über die Probleme der Indianer, die nicht nur vom Rassismus der „Weißen“ geprägt sind. Bis heute werden sie diffamiert und häufig wie Ausstellungsstücke missbraucht. Sie sollen sich mit den Kostümen ihrer Vorväter schmücken und so wie sie tanzen. Alles zur Belustigung und Zeitvertreib der „Weißen“. Aber hin und wieder dürfen sie sich auch mit ihresgleichen treffen. Das Powwow in Oakland. Hier dürfen sie so sein, wie es ihnen gefällt. Die Akteure in dem Buch Dort, dort fiebern diesem Ereignis entgegen. Besonders die jungen Leute freuen sich darauf. Doch, wird ihre Hoffnung erfüllt und haben sie tatsächlich nur Freude an dem Tag?

Tommy Orange beschreibt das Leben von unterschiedlichen Charakteren, die alle eins gemeinsam haben. Sie sind „Natives“. Das bedeutet auch, dass sie vor vielen Jahren von den Eindringlingen im wahrsten Sinne des Wortes überrannt wurden. Ihnen wurde die Existenz geraubt, nie gekannte Krankheiten ins Land geschleppt und sie waren nur noch Menschen zweiter Klasse. Dass das wohl nie endet, davon bin ich überzeugt. Und dass hier das Problem vieler „Indianer“ liegt, ist wohl jedem klar. Zumal sich ihr Dasein unter Präsidenten wie dem jetzigen keinesfalls zum Guten wendet. Auch er vergisst, was seine Vorfahren den Ureinwohnern antaten und diese keinerlei Recht für ihr Vorgehen hatten.

Ich las nicht das Buch, sondern hörte es mir an. Es wird von Christian Brückner gelesen. Für mich war es ein Hochgenuss, diese markante Stimme über 550 Minuten zu hören. Er entführte mich eindrucksvoll in die Lebenssituation der Natives und ja, ich litt mit ihnen mit. Also ist es selbstverständlich, dass ich fünf Sterne plus und eine Hör- oder Leseempfehlung gebe.

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