Paulo Coelho erzählt die Höhepunkte des Lebens der berühmten Tänzerin und Spionin Mata Hari auf 171 Seiten in drei Teilen, denen ein Prolog vorangestellt ist. Alle Teile werden mit einer Fotografie eröffnet, die Mata Hari im entsprechenden Lebensabschnitt zeigen und dem Text eine dokumentarische Anmutung verleihen, der dadurch verstärkt wird, dass die beiden ersten Teile aus einem letzten Brief Mata Haris bestehen, der letzte aus einem Brief ihres Anwaltes.
Der Prolog paraphrasiert eine Zeitungsmeldung über die Erschießung der wegen Spionage verurteilten Mata Hari. Im ersten Teil berichtet die Protagonistin von ihrem Leben als Margaretha Zelle im niederländischen Leuwaarden, ihren Wiener Jahren, der Hochzeit mit einem Offizier, dem sie nach Niederländisch-Ostindien folgt, wo sie in Kontakt mit den fernöstlichen Tanztraditionen kommt. Zurück aus Java, entflieht sie dem einengenden Heim der Kleinfamilie in Amsterdam, indem sie einer Eingebung folgend nach Paris aufbricht. Sie nimmt hier spontan den Künstlernamen Mata Hari (= Auge des Tages) an und setzt zum ersten Mal ihre Wirkung auf Männer ein, um ihr Ziel zu erreichen. Der zweite Teil eröffnet mit Schlagzeilen über Mata Haris Bühnenerfolge: Sie hat Erfolg mit ihrem exotischen Tanz und lernt einflussreiche Personen der Pariser Gesellschaft kennen. Eine davon ist Madame Guimet, mit der Mata Hari der Wille zur Unabhängigkeit verbindet. Sie erkennt sich wieder in einem Monolog der Älteren über die fesselnde und niederreißende Kraft enttäuschter Liebe, und Mata Hari ist davor gewarnt. In wenigen Schritten durchmisst der Roman zwölf Jahre und bringt Mata Hari in die Zeit des Ersten Weltkrieges. Sie hat an Popularität erheblich eingebüßt, Jüngere machen ihr die Bühnenpräsenz streitig und Mata Haris Gönner werden weniger. Einem Angebot folgend, reist sie nach Berlin, das sie allerdings bei Kriegsausbruch sofort wieder verlässt, um erneut in Amsterdam der Langeweile zu erliegen und der wirtschaftlichen Not entgegenzusehen. Sie lässt sich zunächst von den Deutschen, anschließend von den Franzosen zur Spionage anwerben und reist über England nach Paris, alle Hinweise missachtend, dass die Geheimdienste sie im Auge haben und Ihre Tätigkeiten beobachten. Im dritten Teil richtet ihr Anwalt Maître Clunet das Wort an Mata Hari und schildert, wie es zu ihrer Verhaftung kommen konnte: Heer und Geheimdienst Frankreichs benötigten Erfolge, um die öffentliche Meinung wieder gewogen zu stimmen, und setzen dafür auf einen Prozess gegen die schillernde Figur der verruchten Tänzerin, die als halbseidene Dame der Gesellschaft, als internationale Grenzgängerin und als Nonkonformistin eine hervorragende Zielscheibe abgibt. Mata Hari begreift die Komplexität der Anschuldigungen nicht und wird schließlich auf Basis dürftiger Beweise wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und 41-jährig 1917 in Vincennes hingerichtet.
Erzählkonzept
Coelho lässt in seinem Roman drei Stimmen zu Wort kommen: Die zeitgenössische Journaille, Mata Hari selbst und ihren Anwalt. Das gibt Coelho die Gelegenheit, viele Zeugnisse, Quellen und Egodokumente der Zeit in den Text einfließen zu lassen: „Ich bin eine Frau, die im falschen Jahrhundert geboren wurde. Ich weiß nicht, ob sich in der Zukunft jemand an mich erinnern wird, aber wenn doch, dann möchte ich nicht als Opfer gesehen werden, sondern als eine Frau, die mutig ihren Weg gegangen ist und furchtlos den Preis dafür gezahlt hat.“ (S. 24). Verurteilt worden sei Mata Hari wegen des Verbrechens, "in einer von Männern beherrschten Welt eine emanzipierte, unabhängige Frau zu sein." (S. 22) Das ist das Versprechen des Romans, das Coelho allerdings nicht einlöst (s.u.).
Die Erzählperspektive hätte eigentlich bedeuten können, dass den Lesenden der Blick in Mata Haris Gedanken und Motivationen gewährt, dass der Mythos der Kurtisanen-Spionin literarisch verarbeitet und erzählerisch durchdrungen werden würde. Stattdessen erhält der Text einen Anstrich retrospektiver Zusammenfassung, eines Berichtes, in dem die Dinge immer schon geschehen sind und nicht geschehen. Der Leser ist selten dabei, wenn etwas passiert, sondern er erfährt es nur, und sei es aus erster Hand. Dass Coelho hier die literarischen Möglichkeiten des Romans verschenkt, wird umso deutlicher, wenn der dritte Teil Maître Clunet sprechen lässt und die Lektüre plötzlich viel mehr über Mata Hari und ihre Handlungen erfahren lässt als zuvor, als sie selbst berichtete. Die Erzählhaltung gibt dem ganzen Text etwas Chronikhaftes, Berichtendes, Referierendes, das kaum Emotionen weckt, kaum zweite Erzähl- und Bedeutungsebenen öffnet und der historischen Figur Mata Hari keine Facetten entlockt, die über das historisch-faktische Lexikonwissen hinausgehen. Der Prolog, der einen zeitgenössischen Zeitungsartikel paraphrasiert, ist folgerichtig der am atmosphärischsten erzählte Teil des Buches. Weitere ebenfalls an Handlung, Atmosphäre und Geschwindigkeit reiche Szenen sind ihr erster (und im Text einziger!) Tanz der Schleier und die Flucht aus Berlin.
Die immer wieder eingestreuten Fremdtexte (oder sind sie von Coelho verfasste, nur scheinbar fremde Texte?) bringen selten einen erzählerischen Mehrwert; das trifft auch die Bibelzitate. Der auf S. 111 präsentierte Brief des Deserteurs Jörn bleibt Einsprengsel und folgenlos.
Widersprüche
Beim Lesen stört der Eindruck, dass Coelho vieles nicht zu Ende gedacht hat und sich deshalb in konstruktive und sprachliche Widersprüche verstrickt. Auch fehlt für manche Behauptung das erzählerische Fundament; dieser Behauptungscharakter, der vielen historischen Äußerungen Mata Haris innewohnt, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, hinterlässt einen schalen, enttäuschenden Geschmack.
- Wenn die Liebe eine so große Macht hat und die Fähigkeit besitzt, ein Menschenleben zu zeichnen - so oder so -, warum erfahren wir dann nicht einmal den Namen ihrer einzigen wahren Liebe? Wegen der Parallelität zur präsentierten, gesichtslosen griechischen Sage, die wie ein Fremdkörper wirkt? Da die "einzige wahre Liebe" genau zwei Seiten währt (126 f.), wird der ganze, nur scheinbar zentrale Monolog Madame Guimets ad absurdum geführt: Liebe hat für das Verständnis von Coelhos Mata Hari gar keine Bedeutung.
- Mata Haris Selbstauskunft über ihre Verurteilung erscheint ebenfalls wertlos: Einmal glaubt sie das Schicksal Frankreichs und des Weltkriegs in der Hand zu haben (S. 123), im nächsten Moment ist sie eine Frau mit der Sünde, "einen freien Geist" zu besitzen, dessentwegen sie verurteilt wird. Entweder hat sie also Bedeutung, dann wird die Anklage auch politisch logisch; oder sie wird wegen ihrer modernen Frauenrolle angeklagt, dann kann nicht ihr Spionin-Einfluss Gewicht gehabt haben.
- Sprachlich ist es immer wieder unbefriedigend. Ein Beispiel, S. 159: "[N]ur eine Gruppe [...] Soldaten zieht singend zur Gare d'Austerlitz und ahnt nicht, welch grausames Schicksal sie an der Front erwartet. Die Gerüchte lassen niemanden ruhig schlafen." Was denn nun? Wenn alle die schlimmen Gerüchte gehört haben, warum stellt uns Coelho dann die Soldaten ahnungslos vor?
- Das am Anfang scheinbar über das Leben Mata Haris gestellte Narrativ der emanzipierten, unabhängigen Frau, die wegen dieses Verbrechens von der Männerwelt verurteilt wird (S. 22), passt - literarisch! - wenig zu den Hintergründen, dass der französische Geheimdienst und das Heer ein Exempel statuieren mussten, um öffentliches Vertrauen zurückzugewinnen. Da wird nämlich deutlich, dass Mata Haris besonderer Lebensstil nicht die Ursache für ihre Verurteilung war, sondern das Werkzeug: Sie war damit angreifbar. Schade, denn der Topos der "gefährlichen Frau" hätte hier ein schönes Stück Literatur bekommen können.
Fazit
Mehr als 250 Bücher wurden über Mata Hari geschrieben, denn ihr Mythos fasziniert die Zeitgenossen wie die Nachgeborenen: Die in einer Person verknüpfte Erotik, Exotik und Agentenwelt erschafft ein aufregendes Bild, das durch Mata Haris Geltungssucht, ihr ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit und die Propaganda der Zeit noch gesteigert wird. Dahinter steht eine Frau, die mit einer bürgerlichen Existenz, dem Schwinden von Ruhm und Jugend und den Mächten, mit denen sie spielte, nicht umgehen konnte und die keinen realistischen Blick auf sich und ihre Mitmenschen hatte.
Daran ändert Coelhos Buch gar nichts. Er fügt dem Mythos auch keine neue Facette, keine neue Interpretationsmöglichkeit und nicht einmal einen schönen Text hinzu, sondern nur ein weiteres von mehr als 250 Büchern über eine ungewöhnliche Frau.
1 Stern und einen halben, weil der Diogenes-Verlag schöne Bücher macht.