Der Zeitgeist einer Generation
Irgendwie hab ich den Punkt verpasst, denke ich, an dem das Buch so traurig wird. Oder gibt es den überhaupt? Vielleicht habe ich am Anfang schon gemerkt, dass schreckliche Dinge passiert sind, und habe ...
Irgendwie hab ich den Punkt verpasst, denke ich, an dem das Buch so traurig wird. Oder gibt es den überhaupt? Vielleicht habe ich am Anfang schon gemerkt, dass schreckliche Dinge passiert sind, und habe nur alle Zeichen übersehen, verdrängt; genauso wie Connell. Irgendwann war es einfach nicht mehr möglich, zu verdrängen, weil das Leid so eindeutig wurde; da konnte ich die Traurigkeit nicht mehr vermeiden.
Ich seufze und stelle das Buch zurück ins Regal, noch ganz gefangen von der Geschichte. Irgendwie hat Sally Rooney mit ihrer intensiven Art des Erzählens etwas tief in mir berührt. An dem Abend, an dem ich das Buch beende, habe ich nur physisch damit abgeschlossen; denke noch lange darüber nach, was passiert ist.
"Normale Menschen" erzählt auf eine besondere, empfindsame Weise die Geschichte von Marianne und Connell, von zwei Menschen, die das Leben so unterschiedlich geformt hat und die sich doch auf der tiefsten Ebene wortlos verstehen.
Natürlichkeit ist das Gefühl, mit dem ich den Roman assoziiere. Keine Seite des Buches, kein Gedanke der Figuren, kein Gefühl fühlt sich inszeniert, unnatürllich an. Beim Lesen hört das Medium Buch auf zu existieren, es gibt nur noch den Leser und die Protagonisten; irgendwann nur noch Gedanken und Gefühle, man kann nicht mehr unterscheiden, ob es die der Protagonisten oder die des Lesers sind. Intensiv leidet man, ist traurig, sehnsuchtsvoll, verliert die Hoffnung, erlangt sie wieder. Irgendwie schafft es Sally Rooney, durch ihren einzigartigen Schreibstil die tiefgehenden Gefühle der Protagonisten einzufangen und sie ungefiltert an den Leser weiterzugeben.
Die Autorin fängt im Roman eindrucksvoll den Zeitgeist einer jungen Generation ein, das Gefühl der Orientierungslosigkeit in einer oft ungerechten, leidvollen Welt; das Zulassen und tiefe Erleben der Gefühle, aber auch die Verdrängung, wenn alles zu viel wird, die Gefühlstaubheit.
Subtil spricht die Autorin (gesellschaftliche) Probleme an, trifft dabei den Leser bis ins Mark, ohne dass das Thema inszeniert wirkt, sondern ganz natürlich.
Jedes einzelne Element der Handlung fügt sich in die Komposition des Buchs, es entsteht ein feinsinniges, harmonisches Bild, das schmerzhaft und wunderschön zugleich ist wie die Liebe, die Connell und Marianne verbindet.
Ein einziger Aspekt hat mich gestört: an manchen Stellen geschahen Dinge, die ich als schrecklich ungerecht empfand, die aber normal zu sein schienen; hier hat mir irgendwie ein deutliches "das ist so auf keinen Fall in Ordnung, jeder, der in solch einer Situation steckt, hat das Recht, sich zu wehren" gefehlt.
Diesen Gedanken hatte ich so oft, dass ich keine 5 Sterne hergeben kann, aber es wären 4,5, wenn es denn halbe gäbe (ha, es gibt ja doch halbe hier!). Ich kann das Buch nur empfehlen; man lernt über sich selbst und wird zum Nachdenken angeregt. Ich werde auf jeden Fall mehr von der Autorin lesen.