Ein komplexer Familienroman, geprägt von einer schmerzlichen Liebesgeschichte und dem Schicksal der ›Black Babies‹.
Beschreibung
Der erfolgreiche Nachrichtensprecher Tom Monderath geht voll in seinem Job auf und genießt seine Prominenz, die ihm Gespräche mit wichtigen Persönlichkeiten und Politiker*innen ermöglicht. ...
Beschreibung
Der erfolgreiche Nachrichtensprecher Tom Monderath geht voll in seinem Job auf und genießt seine Prominenz, die ihm Gespräche mit wichtigen Persönlichkeiten und Politiker*innen ermöglicht. Neben seiner stressigen Karriere als Anchorman hat er Liebschaften mit wechselnden Frauen und macht sich um seine über achtzigjährige Mutter Greta, die nur wenige Minuten entfernt von ihm wohnt, keine größeren Gedanken. Zu Greta hatte Tom nie ein enges Verhältnis, doch als sie eines Tages hunderte Kilometer von Köln entfernt aufgegriffen wird, verwirrt und desorientiert, begreift Tom, dass er die Vergesslichkeit seine Mutter ernst nehmen muss. Zum ersten Mal erzählt Greta von ihrer Kindheit in Ostpreußen, der Flucht vor den russischen Soldaten nach dem Krieg und ihrer Zeit in Heidelberg. Toms Wut über die nervigen Störungen durch seine Demenzkranke Mutter wandelt sich in Neugier und als er bei Greta auf ein Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Hautfarbe stößt, beginnt er mit Nachforschungen über die Vergangenheit seiner Familie.
Meine Meinung
Der historische Roman »Stay away from Gretchen« von Susanne Abel trägt den Untertitel ›Eine unmögliche Liebe‹, ist eine Liebesgeschichte und zugleich ein berührender Roman über eine vom Zweiten Weltkrieg geprägte Familie, deren Vergangenheit auch noch durch transgenerationale Weitergabe von Traumata in der nächsten Generation nachhallt.
Zu dieser nächsten Generation zählt der eitle Workaholic, Erfolgsjournalist und Nachrichtenmoderator Tom Monderath, der sich nach seiner Arbeit im Ausland einen Namen in der deutschen Medienlandschaft gemacht hat und nun in der Midlifecrisis steckt. In sein Leben passt keine Familie und so ist er zunächst ganz schön genervt als ihm seine Mutter Greta mit ihrer Vergesslichkeit Sorgen macht, doch dies ändert sich mit Voranschreiten des Handlungsverlaufes zusehends.
Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen erzählt, zum einen in der Gegenwart des Jahres 2015, Greta ist vierundachtzig Jahre alt und durch ihre Demenz sieht sie sich immer wieder mit Erinnerungen an ihre von der Flucht und der Nachkriegszeit geprägten Vergangenheit konfrontiert, welche durch die Flüchtlingskrise der Gegenwart getriggert wird.
Auf der zweiten Zeitebene wird von Gretas Kindheit in Ostpreußen, ihrem nationalsozialistischen Vater, der Mutter mit ihrer Arbeit in der Munitionsfabrik, ihrem sozialdemokratischen Großvater und ihrer liebevollen aus Heidelberg stammenden Stiefgroßmutter sowie ihrer älteren Schwester erzählt. Je weiter der Roman voranschreitet, desto tiefer dringt man in Gretas fesselnde Geschichte ein, die auch ihren Sohn Tom nicht mehr loslässt. Als Tom versucht etwas mehr über die Vergangenheit seiner Mutter herauszufinden, stößt er auf eine Fotografie von einem kleinen Mädchen mit dunkler Hautfarbe und kommt damit dem Kern ihrer tief verwurzelten Traurigkeit einen entscheidenden Schritt näher.
Susanne Abel lässt in ihren Roman eigene Erfahrungen als Angehörige einer an Demenz erkrankten Person einfließen, was ihrer fiktiven Geschichte zusätzliche Authentizität verleiht. Unheimlich spannend fand ich es, einmal von der Flucht einer deutschen Familie zu lesen, die 1945 vor den russischen Soldaten von Ostpreußen nach Heidelberg floh, auf diesem langen Weg schreckliches erlebte und deren Martyrium sich auch noch in der von den Amerikanern besetzten Stadt fortsetzte. Die spannende Dynamik des Romans schöpft zum einen aus der von Politik und Krieg zerrissenen Familie Gretas und ihrem unglücklichen Schicksal und zum anderen aus den Auswirkungen auf Toms Leben, denn er schrieb sich als Junge die Verantwortung dafür zu, dass es seiner Mutter psychisch so schlecht ging, was mehrfache Sanatorien-Aufenthalte nach sich gezogen hat.
Eine wichtige Rolle nimmt auch die schwierige Liebesgeschichte zwischen Greta und einem afroamerikanischen GI Robert Cooper ein. Die militärische Führung der US-Besatzungsmacht hat für ihre Soldaten ein Fraternisierungsverbot erlassen, in dem unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wurde, dass sie keine Beziehung mit deutschen ›Frolleins‹ eingehen dürfen. Trotz dieses Verbotes und seiner problematischen Lage als dunkelhäutiger GI geht es Robert (›Bobby‹) in Deutschland besser als in der Heimat, in dem eine strenge Rassentrennung Gesetz ist, und er lässt sich von seiner unmöglichen Liebe zu Greta nicht abbringen.
Ich bin unheimlich begeistert wie viele Themen Susanne Abel in »Stay away from Gretchen« jongliert, eine Parallele zwischen den Flüchtlingen des Zweiten Weltkriegs und der Flüchtlingskrise 2015 zieht, die Situation eines in Deutschland stationierten schwarzen GI umreißt, die Geschichte der ›Black Babies‹ aus der Versenkung holt und das alles in einer berührenden Familiengeschichte verpackt. Nicht nur der Rassismus, der Bobby aus den Reihen seiner weißen Kollegen entgegenschlug bescherte mir Gänsehaut, sondern auch die Diskriminierung von Greta als ›Ami-Flittchen‹ hat mich sehr bewegt.
Fazit
Ein komplexer Familienroman, geprägt von einer schmerzlichen Liebesgeschichte und dem Schicksal der ›Black Babies‹. »Stay away vom Gretchen« ist ein Roman, der mich tief bewegte und zu Tränen rührte.
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© Bellas Wonderworld; Rezension vom 06.05.2021