"Ensel und Krete" ist nach "Die 13 1/2 Leben des Käpt´n Blaubär" Walter Moers´ zweiter Ausflug nach Zamonien. Da es sich bei seinen Zamonien-Romanen aber mehr um alleinstehende Geschichten in einem zusammengehörigen Kosmos als um eine tatsächlich Reihe handelt, kann man das Kunstmärchen an beliebiger Stelle und völlig unabhängig von den anderen Büchern lesen. Das trifft sich gut, denn "Ensel und Krete" ist schon mein sechstes Zamonien-Abenteuer und auch wenn ich in komplett wirrer Reihenfolge in das Universum einsteige, werde ich mit jedem Buch ein größerer Moers-Fan!
Zunächst wie immer ein paar kurze Worte zur Gestaltung. "Ensel und Krete" hat zeigt einen großen braunen Baum mit Jahresringen und einem Astloch, aus dem die zwei Fhernhachenzwerge mit gelb leuchtenden Augen neugierig hervorblicken. Mit dem großflächig gemusterten Hintergrund und dem großen gelben Titel ist es mal wieder ein typisches Zamonien-Cover, das wunderbar zu den Gestaltungen der anderen Romane passt. Hervorheben möchte ich auch wieder die Gestaltung Inneren des Buches, die neben zahlreichen Illustrationen von Flora und Fauna auch mehrere Karten des Großen Waldes und Baumings beinhaltet.
Erster Satz: "Wenn man in Zamonien das Bedürfnis nach vollkommener Harmonie hatte, dann machte man Ferien im Großen Wald."
An welches Märchen der Gebrüder Grimm Walter Moers "Ensel und Krete" angelehnt hat, ist schon nach einem kurzen Blick auf den Titel ersichtlich. Allerdings sind die Parallelen zu "Hänsel und Gretel" über den Namen hinaus nur grob angedeutet und es erwartet uns keine schnöde Nacherzählung. Zwar gibt es wie im Original ein Geschwisterpaar, das sich im Wald verirrt und auf eine Hexe trifft, aber ansonsten sind alle anderen Aspekte und Details der Geschichte so anders, wie sie nur sein könnten. Beginnend beim Setting, über die Figuren, die Atmosphäre der Geschichte bis hin zum Showdown mit der Hexe hat Walter Moers hier wieder eine Fest an Originalität produziert, das mit grandiosen Naturbeschreibungen, schrillen Figuren und abrupten Wendungen überzeugt.
Der Beginn der Geschichte setzt inhaltlich und zeitlich recht nah am Blaubär an und entführt in den Großen Wald, der nach der Besiedlung der Buntbären zu einem Touristenort geworden ist. Während die Gemeinde Bauming als heiteres Ferienidyll bekannt ist, ranken sich um den Rest des Waldes allerdings viele unheilvolle Legenden. Kaum sind die beiden Kinder vom Weg abgekommen, treffen sie alle Nase lang auf gefährliche Wesen und Orte, die nach ihrem Leben trachten. Von singenden Buntbären geraten sie an hungrige Laubwölfe, sprechende Orchideen, verschlingendes Gras, altkluge Sternenstauner, einnehmende Meteoritenseen, einen gehässigen Stollentroll und natürlich ... die Hexe! So ist es kaum überraschend, dass sich die Geschichte vom gemütlichen Märchen recht bald zum Gruselroman entwickelt und sogar das ein oder andere Horrorelement einbezieht. Den beiden Zwergenkindern und uns LeserInnen wird im Laufe der 257 Seiten ganz schön viel zugemutet. Damit ist "Ensel und Krete" deutlich düsterer als die humorvollen Abenteuer des Käpt´n Blaubär.
"Der Natur sind die Tragödien, die sich in ihr abspielen, egal. Noch kein Galgenbaum hat sich darüber aufgeregt, dass Unschuldige an ihm aufgeknüpft wurden. Kein Grashalm eines Schlachtfeldes trauert den Gefallenen nach."
Einen spannende Kontrapunkt zum spannenden Märchen bieten die erzähltechnischen Kniffe, die Walter Moers - oder entschuldige, natürlich Zamonien-Autor Hildegunst von Mythenmetz - dem Roman durch Intertextualität und Autorfiktion hinzugefügt hat. So wird auf dieser Metaebene Moers nicht nur erneut zum Übersetzer degradiert und gibt die Autorenschaft an Hildegunst ab, dieser führt hier auch noch die "Mythenmetzschen Ausschweifungen" als literarisches Stilmittel ein. Dies bedeutet im Endeffekt, dass er die Erzählung an jeder beliebigen Stelle für einen Einschub zu jeglichem Thema unterbrechen kann, um beispielsweise ausschweifend seinen Schreibtisch zu beschreiben, seinen Erzfeind den zamonischen Literaturkritiker herunterzumachen, wahlweise das Wort "Brummli" seitenweise zu wiederholen, prahlerisch für seine früheren Erfolge zu werben oder anderweitig auf gedankliche Streifzüge zu gehen. Dabei strapaziert er die Macht des Erzählers immer wieder bis an die Grenze des Erträglichen, wenn er sich wirklich ausschließlich die aller spannendste Stelle herausgreift, um die Geschichte für selbstverliebtes Geschwafel zu unterbrechen.
"Wenngleich in monströser Zahl verlegt und gelesen, sprechen die Prinz-Kaltbluth-Romane nur die niedrigsten Bedürfnisse an, als da sind: Romantik, Spannungssucht und wirklichkeitsfremder Eskapismus."
Trotz der strapaziösen Unterbrechungen ist dies allerdings eine großartige Art und Weise, Mythenmetz als überschwänglicher Erzähler und handelnde Figur für die späteren Zamonien-Romane einzuführen! Passend dazu ist nach dem Ende des Märchens (das doch recht abrupt eintrifft und einige Fragen offen lässt) ein "halber Lebenslauf" des Autors eingefügt, der sich mit Fußnoten mit Quellenverweisen auf andere zamonische Werke und Sachbücher als wissenschaftliche Annäherung an das Leben des "großen zamonischen Dichters" versucht. Für mich, die schon einige andere Abenteuer und spätere Werke von Mythenmetz gelesen hat, war dies eine wunderbare Ergänzung seiner Charakterisierung, die sich in den späteren Büchern weiterentwickelt. Ich freue mich riesig auf das nächste Abenteuer!
Fazit
"Ensel und Krete" ist ein atmosphärisch dichter, wendungsreicher und erzählerisch raffinierter Gruselroman, der besonders durch die Metaebene der Mythenmetzschen Ausschweifungen viel mehr bietet als eine einfache Märchennacherzählung!