Inflation, Hass und eine mutige Hebamme
Hulda Gold, die Hebamme mit dem detektivischen Spürsinn, lernt in Anne Sterns historischem Kriminalroman "Scheunenkinder" das Berlin der 1920-er Jahre abseits der "goldenen Zeiten" kennen. Die selbstbewusste ...
Hulda Gold, die Hebamme mit dem detektivischen Spürsinn, lernt in Anne Sterns historischem Kriminalroman "Scheunenkinder" das Berlin der 1920-er Jahre abseits der "goldenen Zeiten" kennen. Die selbstbewusste junge Frau kommt dank ihres Berufs in ganz unterschiedliche Milieus der Stadt - doch das Scheunenviertel in Berlin Mitte war für sie bisher ein unbekanntes Pflaster. Über die Vermittlung ihres Vaters soll sie in dem Stadtteil, der wegen seiner vielen ostjüdischen Einwohner wie ein galizische Stetl mitten in Berlin ist, der hochschwangeren Tamar durch die Geburt helfen. Die fromme orthodoxe Familie legt Wert auf eine jüdische Hebamme - auch wenn Hulda, deren Mutter Christin war, im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes gar nicht als Jüdin anerkannt ist und auch ihr Vater als Vertreter des liberalen Reformjudentums wenig mit der Glaubenswelt der frommen und bitterarmen Ostjuden gemeinsam hat.
Bei aller Faszination für die fremde Welt des Scheunenviertels merkt Hulda schnell, dass Tamar bei aller Vorfreude auf ihr Kind in der Familie isoliert ist. Zwar liebt sie ihren Ehemann Zvi, wird von der Schwiegermutter aber vehement abgelehnt, da sie keine Jüdin, sondern Armenierin ist. Als Hulda nach der weitgehend unkomplizierten Geburt wenige Tage später nach Tamar schaut, ist die junge Mutter apathisch und depressiv - und von dem Kind ist keine Spur zu finden. Huldas Fragen laufen ins Leere, vergeblich versucht sie, ihren Freund, den Kriminalkommissar Karl, für den Fall zu interessieren. Doch der steckt bis über beide Ohren in Arbeit nach dem Fund mehrerer toter Kinder, die wohl als Arbeitssklaven verkauft worden sollten. Gibt es womöglich Bezüge zu dem verschwundenen Baby? Hulda jedenfalls lässt sich nicht abwimmeln, weder von Tamars Schwiegermutter noch von Karl. Und auch der junge Rabbiner der Familie, über den sich Hulda nicht ganz klar ist, muss sich allerlei Fragen gefallen lassen...
Mit Hulda Gold hat Anne Stern eine sympatische Hauptfigur geschaffen, die aufgeschlossen und neugierig durch die Stadt geht und mit viel Mitgefühl "ihren" werdenden Müttern begegnet. Anna Thalbach gibt in diesem Hörbuch nicht nur Hulda eine Stimme, sondern zeigt ihre ganze Bandbreite von burschikosen "Straßen-Berlinerisch" bis hin zur angeblich feinen Gesellschaft. Mit ihrer Interpretation schafft sie es, Kopfkino des historischen Berlins der 1020-er Jahre zu erzeugen.
Weltwirtschaftskrise und Inflation, Armut und Arbeitslosigkeit, wachsender Nationalismus und Antisemitismus prägen auch den Berliner Alltag. Und auch wenn Hulda selbst ihre jüdische Herkunft nicht zum Thema machen will, erkennt sie zunehmend, dass ihr Name und ihr Aussehen bei manchen Menschen bereits auslösen, Hass auszulösen. Wie nahe Gewalt und antisemitischer Hass auch im Jahr 1923 schon sind, muss Hulda eines Tages im Scheunenviertel erleben - und auch, wie gleichgültig viele Polizisten auf das Pogrom reagieren.
Auch die Beschränkungen, mit denen Frauen in dieser Zeit immer noch konfrontiert sind, macht die Autorin deutlich. Auch wenn Hulda in ihrem Beruf aufgeht - als Ärztin wäre sie sicherlich ebenso erfolgreich. Doch Frauen an den Universitäten - das ist noch immer mit zahlreichen Problemen und Hindernissen verbunden.
"Scheunenkinder" ist weniger ein Whodunit als ein historischer Roman mit "Kriminal-Elementen". Dabei überzeugt die Figur der Hulda als patente und aufgeschlossene junge Frau, die sich nicht mit den Umständen abfinden will, bei ihrem Privatleben allerdings manchmal den Durchblick zu verlieren droht.