Muttersein auf Messers Schneide
„Vielleicht war das für mich auch eine Art Rechtfertigung. Mein Verhalten war pathologisch. Und ich konnte nicht aufhören, sie dafür zu bestrafen, dass es sie gab. Wie leicht war es da, meine Kopfhörer ...
„Vielleicht war das für mich auch eine Art Rechtfertigung. Mein Verhalten war pathologisch. Und ich konnte nicht aufhören, sie dafür zu bestrafen, dass es sie gab. Wie leicht war es da, meine Kopfhörer aufzusetzen und so zu tun, als existierte sie nicht.“
Inhalt
Blythe ist mehr als verzweifelt, als sie es dreizehn Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes fertig bringt, ihrem Ex-Mann die eigene Version der Geschichte zu erzählen, indem sie ihm alles, was sie in ihrer gemeinsamen Zeit tatsächlich bewegte, in Briefform zukommen lässt. Unbarmherzig rechnet sie mit sich selbst ab, aber auch mit der gemeinsamen Tochter und der vollkommen zermürbten Ehe, die zwangsläufig zum Scheitern verurteilt war.
Blythe hat nicht nur eine zerrüttete Kindheit hinter sich, in der sie nie mütterliche Liebe spürte, nun findet sie sich auch noch selbst in der Rolle der Mutter wieder und fühlt sich ihrem Kind nicht gewachsen. Aber schlimmer noch, es ist nicht nur, dass sie es nicht lieben kann, sie fürchtet sich regelrecht vor ihrer Tochter Violet. Sie ist ein kaltherziges Kind und scheint nur Interesse daran zu haben, die Schwachstellen anderer aufzudecken, um sie unbarmherzig auszunutzen. Mehr als eine friedliche Koexistenz gelingt der jungen Mutter nicht und dass, obwohl sie sich so auf ihr eigenes Kind gefreut hat. Ein zweites Baby scheint eine gute Lösung für die zahlreichen Probleme der Familie zu sein und eine Möglichkeit für Blythe sich mit ihren eigenen Gefühlen auszusöhnen, doch nach der Geburt ihres Sohnes Sam spitzt sich das Ungleichgewicht weiter zu. Zwar spürt die junge Frau nun die ganze Liebe zum Zweitgeborenen, doch Violet beobachtet die sich verändernde Situation mit Argwohn und warum sollte sie ihren besonderen Stand aufgeben wollen, warum den Kampf mit der eigenen Mutter einstellen – denn geliebt wird sie ja so oder so nicht …
Meinung
Die kanadische Autorin Ashley Audrain entwirft in ihrem Debütroman eine gleichermaßen authentische wie bedrückende Geschichte, ja fast das Psychogramm einer gestörten Seele. Dabei wählt sie eine kleine, sehr normale Familie, die sich nach und nach immer mehr von innen auflöst und regelrecht in ihre kleinsten Bestandteile zersetzt. Dabei lenkt sie ihr Augenmerk besonders auf die Mutterschaft einer jungen Frau, die selbst kein gutes Vorbild hatte und sich nun trotz einiger Zweifel an das Abenteuer wagt. Sehr schnell wird deutlich, wie groß die Kluft zwischen ihren Gefühlen ist, denn alles, was sie sich wünschte, kann sie einfach nicht empfinden, die Beziehung zwischen ihr und der Tochter ist vom ersten Moment an gestört und aus ihrer Gefühlswelt findet sie keinen Ausweg, ganz im Gegenteil, sie sieht bestimmte Verhaltensweisen an ihrem Kind, die sie noch tiefer in den dunkeln Gefühlsstrudel hinabziehen.
Dieser Roman wirft eine Menge Fragen auf und weckt ambivalente Gefühle – einerseits kann man sich als Leser wunderbar in die Gedankengänge der Hauptprotagonistin hineinversetzen und kommt ihren Emotionen sehr nah, andererseits gibt es immer wieder Stellen im Buch, die zeigen, wie labil die Mutterfigur hier ist und welch schlimme Folgen es haben kann, wenn nicht einmal der Partner das Offensichtliche wahrhaben möchte und stattdessen lieber die Flucht ergreift. Gerade der Aspekt, wie sich eine Partnerschaft verändert, wenn plötzlich gemeinsamer Nachwuchs da ist, hat mir ausgesprochen gut gefallen. In diesem Fall ist das Gefüge nur wahnsinnig schnell und äußerst fatal in eine Schieflage geraten. Das Kind wird nicht wie gewünscht zum Bindeglied, sondern entzweit die Partner immer mehr.
Ein weiteres Plus dieser Erzählung ist eine ungewöhnliche Perspektive, denn alle bisherigen Romane, die ich zur Thematik Mutter-Tochter-Beziehungen gelesen haben, schildern zwar oft ein Unverständnis der beiden füreinander und eine klare Abgrenzung voneinander, aber hier liegt der Handlungsschwerpunkt eindeutig auf der Mutter und ihrer fehlenden Liebe zur Tochter. Es gibt einige Stellen im Text, da spricht die Heranwachsende ihre Mutter direkt darauf an, warum sie ihr keine Liebe entgegenbringen kann, warum sie ihre Tochter so sehr hasst. Und tatsächlich, die Mutter schreibt oftmals den Satz „Ich hasse sie“. Dennoch schafft es dieser Roman, dass man als Leser gewissermaßen wertungsfrei bleiben möchte und stattdessen lieber gefesselt der eigentlichen Handlung folgt, die ich mir übrigens auch absolut spannend in einer Verfilmung vorstellen könnte.
Etwas störend empfand ich die gewählte Briefform, gerade im Schriftbild wirkt die 2. Person Singular im Präteritum äußerst umständlich und etwas sperrig, ganz anders als der Inhalt selbst aber doch so, dass es mir gerade in den Erzählpassagen ohne wörtliche Rede negativ aufgefallen ist.
Fazit
Ganz klar hier werden es 5 Lesesterne und eine absolute Leseempfehlung, denn diese Geschichte punktet mit einer großen Authentizität, wirbelt eine Vielzahl an Gedanken auf, fasziniert und verschreckt gleichermaßen und liest sich stellenweise so atemlos wie ein guter Thriller. Es ist ein gekonnter Mix aus Spannungsmomenten, gepaart mit tiefen Emotionen und sehr menschlichen Verhaltensweisen. Immer wieder regt der Text zum Nachdenken an und lässt Fragen aufkommen: Wie gehe ich selbst mit der Mutterrolle um? Warum haben es ungeliebte Kinder so schwer und ist das alles wirklich so ausschlaggebend für die nächste Generation? Ich glaube dieses Buch hätte mir zu einer anderen Zeit im Leben Bauchschmerzen bereitet, denn kurz nach einer Entbindung mit ähnlichen Fragen im Herzen, wie die Erzählerin wirkt das sicherlich verstörend – mit dem entsprechenden Abstand ist es allerdings ein literarischer Leckerbissen und ziemlich weit oben auf der Liste meiner Lieblingsbücher, also ein Jahreshighlight allemal!