Die meisten von uns leiden irgendwann im Verlaufe ihres Lebens an Verlusten, enttäuschten Hoffnungen, finanziellen Sorgen, Krankheiten,….
Die Schwestern Katja und Alexa sind damit aufgewachsen. Sie hatten immer einander, jetzt ist die Mutter gestorben, zu der besonders Katja, fast 42 Jahre alt, in den letzten Jahren nur einmal Kontakt gehabt hat; Alexa, die drei Jahre ältere, hatte sie überredet, als die Mutter im Sterben lag. Unter dem wenigen, was vom Leben der Mutter übrig ist, findet Alexa nun einen Brief, dessen Inhalt sie verstört. Der Brief deutet an, dass es da noch etwas zu erzählen gab, unterlässt dies aber, belässt es bei Andeutungen.
Die Beziehung zu Mutter Ines war für beide Töchter schwierig: „Sie ließ uns allein mit unserer Wut“. S. 25. Der Vater war gegangen, als die Mädchen noch klein waren – erklärte hatte die Mutter dies nie. „Sie war nicht böse, jedenfalls nicht immer, meistens hatte sie einfach keine Lust, sich um uns zu kümmern.“ S. 37 und „Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob Ines uns nicht liebte, weil sie es nicht konnte, oder ob sie uns nicht liebte, weil sie es nicht wollte.“ S. 72
Beide Schwestern leben ihr Leben – Katja ist berufstätig, ein Teenager-Sohn, der Vater hat die Familie allein gelassen, auch er. Alexa ist Hausfrau, verheiratet, Teenager-Tochter, Teenager-Sohn – sie hatten noch eine schwerstbehinderte Tochter, die gestorben ist. So wie Katja als Begründung für ihr Tun oder (Unter-)Lassen vor sich herträgt, berufstätig zu sein, so verwendet Alexa ihr Familienmodell als Rüstung und Waffe. Autorin Barbara Kunrath schafft es, beider Lebenskonzept und Argumente gleichermaßen zu hinterfragen. Die Perspektive im Roman wechselt zwischen den Schwestern, wobei Alexa immer als Ich-Erzählerin erscheint, bei Katja wird zur dritten Person gewechselt.
Mit Alexa ist das so: ich mag nicht besonders, dass sie vermittelt, die „richtige“ Art Leben zu leben – allerdings wäre sie diejenige, die ich sofort zum Babysitting für mein Kind einsetzen würde. Sie ist zuverlässig, es gäbe regelmäßige Mahlzeiten, alles würde „richtig“ ablaufen. Und ich würde hinterher Scham empfinden, ob sie die Wollmäuse gesehen hat, die Tiefkühlgerichte, …Katja hätte man gerne als Kumpel, Alexa nicht.
Die Schwestern versuchen, dem Geheimnis aus der Geschichte ihrer Mutter nachzuspüren, stoßen auf Widerstände. Als es danach in ihrer beider Leben zu Auflösungserscheinungen ihrer Lebenskonzepte kommt, treiben sie die Suche voran. Was sie erfahren, verändert alles. Quasi nebenbei stellt sich heraus, dass das Miteinander geprägt ist davon, die Schwester sowohl zu beneiden als auch ihr Verhalten nicht nachvollziehen zu können. Letztendlich müssen sie sich, auch angesichts der neuen Erkenntnisse, beide ähnlichen Fragen stellen: „ ‚Wovor hast du Angst?‘, fragt er.
Die Frage müsste lauten: Wovor hast du mehr Angst? Vor dem gar nicht? Oder vor dem zu viel? Sie weiß es nicht.“
„Sie braucht Raum und Freiheit, sonst wird sie ersticken. Aber wo hört der Raum auf, und wo wird die Freiheit zur Lüge?“ S. 164
Kein „Frauen-/Liebesroman“, aber doch eher Fragen nachspürend, denen sich Frauen ausgesetzt sehen - der Roman gibt in einem ruhigen, melancholischen Stil, häufig mit schöner bildhafter Sprache einen Einblick dazu, was funktioniert und was verletzt an Geschwistern und Familien, Eltern und Kindern, Paaren und Lebensentwürfen – meiner Meinung nach sehr gut gelungen, allein der Epilog ist mir zu glatt geraten, zu „aufgelöst“
(4,4 von 5 Sternen).
passendes Folgebuch:
Wer ein ähnliches Thema von der Kindheit zum Erwachsenen lesen möchte: literarischer, aber leicht lesbar geschrieben, thematisiert so etwas Rose Tremain für zwei Jungs, die als beste Freunde ab ihrer Kindheit etlichen Widrigkeiten nur gemeinsam zu trotzen vermögen. Rose Tremain: Und damit fing es an