Kurzmeinung:
Ein spannender Familienroman, der sehr eindrücklich das Psychogramm einer auf den ersten Blick ganz normalen Familie zeichnet. Doch jedes Familienmitglied hat seine kleinen Geheimnisse und so komm es nach jahrelangem Anstauen von kleinen Missverständnissen und Lügen zur Katastrophe. Erzählt in einer klaren Sprache und sehr beklemmender Atmosphäre.
Klappentext:
"Lydia ist tot." Der erste Satz, ein Schlag, eine Katastrophe. Am Morgen des 3. Mai 1977 erscheint sie nicht zum Frühstück. Am folgenden Tag findet die Polizei Lydias Leiche. Mord oder Selbstmord?
Die Lieblingstochter von James und Marilyn Lee war ein ruhiges, strebsames und intelligentes Mädchen. Für den älteren Bruder Nathan steht fest, dass der gutaussehende Jack an Lydias Tod Schuld hat. Marilyn, die ehrgeizige Mutter, geht manisch auf Spurensuche. James, Sohn chinesischer Einwanderer, bricht vor Trauer um die Tochter das Herz. Allein die stille Hannah ahnt etwas von den Problemen der großen Schwester. Was bedeutet es, sein Leben in die Hand zu nehmen? Welche Kraft hat all das Ungesagte, das Menschen oft in einem privaten Abgrund gefangen hält? Nur der Leser erfährt am Ende, was sich in jener Nacht wirklich ereignet hat.
Zum Buch:
Zu Beginn des Buches verschwindet also die "Lieblingstochter" der Familie: Lydia. Nach einiger Zeit der Suche wird bald die Leiche der 16-jährigen gefunden. Diese schockierenden Ereignisse reißen die Familie aus ihrem Trott und jahrelang angestaute Geheimnisse kommen langsam ans Licht.
Das Buch wird abwechselnd aus Sicht der verschiedenen Familienmitglieder geschrieben. Da gibt es zum einen die Mutter Marilyn, die ihre großen Karrierewünsche für die Familie aufgab.
"Ich hätte das schaffen können" Das hypothetische Plusquamperfekt, die Zeit der verpassten Chancen. (Marilyn, S.99)
Den Vater James, der als Immigrant aus China sein Leben lang mit Vorurteilen zu kämpfen hatte und nie richtig seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Dann gibt es noch den ältesten Sohn, Nathaniel, der nie die Erwartungen seinen Vaters erfüllen konnte. Und Hannah, die Jüngste und meist von allen Übersehene.
Diese auf den ersten Blick idyllische und völlig typische Familie hat aber viele Geheimnisse, die nach und nach ans Licht kommen. Jeder glaubt, den anderen zu kennen, und tut es doch nicht. Sie sind eine Familie, und doch ist jeder auf seine Art einsam, weil sich die Familienmitglieder zu wenig sagen, zu wenig zuhören und zu viel verschweigen, aus Angst, sich zu offenbaren und damit auch verletzlich zu machen. Ein Buch das zeigt, das man nie wirklich wissen kann, was in einem anderen Menschen vorgeht. Auch wenn man ihn noch so gut zu kennen glaubt.
Das Buch spricht viele wichtige Themen an: Es geht um Immigration und Vorurteile, um Emanzipation, um Erwartungen der Eltern an ihre Kinder, um Mobbing, Einsamkeit und Kommunikation in der Familie.
So kommt nach und nach zum Vorschein, wie sehr Lydia unter dem Druck gelitten hat, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen, die all ihre Wünsche und Träume auf ihre älteste Tochter projiziert hat.
Und auch Nath kann die Erwartungen seinen Vaters nicht erfüllen. James erkennt sich selbst sehr stark in seinem Sohn und hätte sich doch eigentlich so viel Anderes, aus seiner Sicht Besseres für ihn gewünscht. James kann die Probleme seines Sohnes nachvollziehen, hatte er doch selbst mit Vorurteilen und Mobbing zu kämpfen. Und doch kann er nicht über seinen Schatten springen und ihm zeigen, dass er ihn versteht -oder noch viel wichtiger, dass er ihn liebt. Der Vater hat letztendlich auch Schuldgefühle gegenüber dem Sohn, die eine echte Nähe unmöglich machen.
Meinung:
Für mich ingesamt ein sehr gutes Buch. Die Charaktere sind sehr plastisch und echt, die Gefühle und Beziehungen gut beobachtet und feinfühlig beschrieben. Die Geschichte wird in einer klaren Sprache erzählt, die einen schnell ins Geschehen finden lässt.
Die Erzählung ist gespickt mit kleinen Beobachtungen und Erinnerungen, die das Geschehen nah und echt wirken lassen. So zum Beispiel, als James sich mitten im Streit mit Marilyn daran erinnert, wie sie beide bei einer zärtlichen Berührung gleichzeitig Gänsehaut bekommen haben, und James dieser engen Verbindung nachtrauert.
Der Aufbau ist meistens klar, doch die erwähnten Perspektivwechsel passieren oft recht abrupt und mitten in einem Absatz, so dass für mich manchmal nicht ganz klar war, aus wessen Sicht wir das Geschehen gerade geschildert bekommen. Da muss man wirklich aufmerksam lesen. Aber das lohnt sich auf jeden Fall, denn neben den Perspektivwechseln gibt es auch immer wieder Zeitsprünge und so erfahren wir Stück für Stück mehr über die Familie Lee.
Die Zeitsprünge fand ich auch in sofern spannend, da zu anderen Zeiten eben andere Konventionen geherrscht haben, und man sich mit einem anderen Gesellschaftsbild konfrontiert sieht. So ist etwas, was uns heute selbstverständlich erscheint -zB das beide Elternteile arbeiten gehen- damals noch ein Tabu. Unter diesem Aspekt bekommen die Gedanken, Wünsche und Handlungen der jeweiligen Charaktere eine neue Bedeutung.
Die Geschichte ist dabei die ganze Zeit plausibel und nachvollziehbar. Der Leser bemerkt voll Bedauern, wie all die kleinen Missverständnisse und Zurückweisungen sich über ein Leben addieren und schließlich in einer Katastrophe münden. Dabei ist man als Leser so nah am Geschehen, dass man von einer starken Beklommenheit erfasst wird.
An vielen Stellen habe ich gedacht "Hätten man diese Kleinigkeit anders gemacht oder hätte sie hier einmal genauer zugehört, dann wäre möglicherweise alles anders gelaufen." Und gerade dieses Realistische, diese Nähe, die Kleinigkeiten sind es, die in mir so eine bedrückende Stimmung erzeugt haben.
Man liebte so sehr und erhoffte so viel, und am Ende hatte man nichts. (S.240)
Leider ist der Schluss für mich ein bisschen aus diesem stimmigen Gesamtkonzept herausgefallen und hat mit dieser toll heraufbeschworenen Stimmung gebrochen. Für mich war es unglaubwürdig und nicht ganz stimmig, wie sich dann auf einmal doch alle Familienmitglieder versöhnen und sich verstehen wollten. Ich hätte mir gewünscht, dass mich die Autorin mit diesem beklemmenden Gefühl zurücklässt. So hatte ich das Gefühl, dass auf Krampf eine Art "Happy End" gesucht wurde.
Insgesamt aber ein eindringlicher und einfühlsam geschriebener Familienroman, den ich sehr empfehlen kann. Das Buch lässt einen über seine eigenen Beziehungen nachdenken und es gibt viele eindringliche Zitate, die mich noch eine Weile begleitet haben.
So wie die Erinnerung an geliebte Menschen, die man verloren hat, sich immer weiter glätten, vereinfachen und ihre Vielschichtigkeit verlieren (S.263)