Vielschichtige und differenzierte Einblicke in eine uns fremde Kultur
Ich hatte sowohl beruflich in Österreich schon mit Menschen aus China zu tun, als auch schon einmal die Gelegenheit, das Land auf einer kurzen Reise zu besuchen. Dabei sind mir viele Unterschiede aufgefallen, ...
Ich hatte sowohl beruflich in Österreich schon mit Menschen aus China zu tun, als auch schon einmal die Gelegenheit, das Land auf einer kurzen Reise zu besuchen. Dabei sind mir viele Unterschiede aufgefallen, die ich mir nicht erklären konnte. Umso neugieriger hat mich das Buch "Ein Chinese sagt nicht, was er denkt" von Christian Emil Schütz gemacht. Nach der Lektüre kann ich sagen: ich hatte viele Aha-Momente beim Lesen und kann nun viel besser die Hintergründe vieler kultureller Unterschiede und Missverständnisse einordnen.
Der Autor hat sich wirklich umfassend mit der chinesischen Kultur und dem Weltbild, das damit verbunden sind, beschäftigt. In das Buch fließen mehrere spannende Perspektiven ein: erstens die berufliche: der Autor hat sich auf das spannende Abenteuer eingelassen, gemeinsam mit einem chinesischen Geschäftspartner ein Unternehmen aufzubauen. Zweitens die private: er ist verheiratet mit einer chinesischen Ärztin und TCM-Therapeutin und kann dadurch auch noch einmal näher von der privaten Perspektive des engen Kontakts mit chinesischen Menschen erzählen (und auch seine Frau und deren Perspektive kommen in Erzählungen sowie Interviews zu Wort). Und drittens ergänzt er diese zwei persönlichen Perspektiven noch mit Wissen um die jahrtausendealte chinesische Kultur, die nicht von den letzten Jahrzehnten des Kommunismus, sondern noch viel tiefergehend von Konfuzianismus und Taoismus geprägt wurde und bis heute wird.
Persönlich, spannend und nahbar geschrieben, nimmt uns der Autor auf seine Reisen, geschäftlichen und privaten Begegnungen mit. Wir bereisen mit ihm China, gehen in chinesische Restaurants, lernen die Familie seiner Frau kennen und erleben den Aufbau und Betrieb seines Unternehmens (mehrere TCM-Praxen in der Schweiz) mit allen Höhen und Tiefen mit. Beim Lesen wundern wir uns gemeinsam mit dem Autor über kulturell erstmals unverständlich erscheinende Situationen, suchen mit ihm gedanklich sowie in Gesprächen mit Chinesinnen und kulturspezifischer Lektüre und staunen über die Erklärungen und kulturellen Unterschiede.
China scheint eine sich von Westeuropa in vielen Bereichen fundamental unterscheidende Kultur zu sein. Was im Westen privat und beruflich hochgeschätzt wird - etwa Ehrlichkeit, Direktheit und Vertrauen - wird in China je nach Situation als unhöflich oder als Schwäche ausgelegt... oder es wird auch einfach nicht geglaubt, dass das Gegenüber tatsächlich ehrlich sein könnte, weil das für viele Chinesinnen besonders im beruflichen Kontext offenbar unvorstellbar ist.
Hierarchien, soziale Normen und "Das Gesicht wahren" spielen noch einmal viel stärker und anders eine Rolle als in Europa, gleichzeitig scheint es (leider) ebenfalls eine noch stärkere kulturelle Abwertung von Frauen zu geben... trotz deren durchaus immer wieder vorhandener Präsenz im Berufsleben auch in höheren Positionen. Die Frau des Autors ist auch schon in China eine angesehene Professorin und TCM-Ärztin und wird als solche durchaus respektiert.. ist aber gleichzeitig z.B. in ihrer Herkunftsfamilie ihrem Bruder untergeordnet, weil sie weiblich ist. Auch hier zeigt sich stark die vorhandene Ambivalenz der chinesischen Kultur, zwischen verschiedenen historischen und kulturellen Einflüssen (z.B. Unterordnung der Frau in der traditionellen chinesischen Kultur vs. starke Förderung der Gleichstellung der Geschlechter im Sozialismus) und den Anforderungen und globalen Prägungen der heutigen Zeit.
Auch für einen neuen Blick auf die aktuelle weltpolitische Lage - z.B. den Ukrainekrieg und die chinesische Position dazu - ist das Buch sehr erhellend. In einem kurzen Exkurs wird in einem Zwischenkapitel von der interkulturellen Zusammenarbeit des Autors mit einem sibirischen Kinderchor berichtet und dabei differenziert und klug auch die russische Kultur und deren eigenständige Position, geprägt sowohl von westlichen als auch von asiatischen Einflüssen, diskutiert, und in diesem Zusammenhang auch auf Vladimir Putins Handlungen und Kommunikation eingegangen.
Aus rein westlicher Perspektive betrachtet war dieses nach vielen Jahrzehnten der scheinbaren Annäherung Russlands an den Westen eine große Überraschung und Enttäuschung. Wenn man sich aber mit den Prinzipien der chinesischen Kultur und insbesondere mit den 36 Strategemen beschäftigt hat (die Putin als hochgebildeter Mensch sicherlich kennt und die ihm als Russen näher stehen als den Westlern), in denen es insbesondere um Langfristigkeit, um List und Täuschung als Zeichen von Intelligenz und Stärke und um Verschleierung der eigenen Absichten geht, erscheinen die aktuellen weltpolitischen Ereignisse weit weniger überraschend.
Damit schließt sich der Bogen dazu, wem ich diesen Buch von Herzen empfehlen kann: nicht nur allen, die beruflich oder privat mit China zu tun haben, sondern auch allen kulturell interessierten Menschen, die auch unabhängig von China ihren Blickwinkel in Bezug auf interkulturelle Unterschiede und deren Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft besser verstehen möchten.
Mit seiner differenzierten Betrachtungweise und den vielen Beispielen erweitert das Buch auch sehr den Blick darauf, in wie vielen Bereichen des Zusammenlebens und Wirtschaftens interkulturelle Unterschiede eine enorme Rolle spielen können, und sensibilisiert damit am Beispiel der chinesischen Kultur auch insgesamt für den Kontakt mit anderen Kulturen. Durch das Beispiel Russlands wird außerdem deutlich, dass der Einfluss der chinesischen Kultur und Denkweise weit über China alleine hinausgeht und zumindest für ein Verständnis aller asiatischen Länder sehr hilfreich sein kann.
Das Buch empfiehlt sich also nicht nur für alle, die mit China beruflich zu tun haben, sondern generell für alle Menschen, die privat oder beruflich mit anderen Kulturen in Kontakt kommen und ihren Horizont erweitern möchten.