Schweigsam
Die Mutter ist der Mensch, mit dem man sich einen Körper geteilt hat, aus deren Zellen sich die eigenen geformt haben. Sollte es dann nicht auch der Mensch sein, den man am besten kennt? Dem man sich am ...
Die Mutter ist der Mensch, mit dem man sich einen Körper geteilt hat, aus deren Zellen sich die eigenen geformt haben. Sollte es dann nicht auch der Mensch sein, den man am besten kennt? Dem man sich am nächsten fühlt, verstanden und vertraut? Christine Vescoli kennt dieses Gefühl nicht. Denn ihre Mutter hat zeitlebens geschwiegen. Wollte ihre eigene Geschichte nicht preisgeben. Die Fakten ja, die sind bekannt. Als Kind einer armen Familie wurde die Mutter als Vierjährige weggegeben. Sie kannte sie nur die Arbeit und die hartherzige Bäuerin auf deren Hof sie gebracht wurde. Ihr Eltern bekamen weitere Kinder, aber alle außer ihr durften bleiben. So grausam und unverständlich, wie dies für den Leser ist, so unbegreiflich ist es auch für die Tochter. Und sie hat Fragen an ihre Mutter, doch die schweigt. Die Autorin möchte dieses Schweigen überwinden, möchte die Geschichte der Mutter verstehen, um sich auch selbst verstehen zu können. Der Text ist zart und poetisch, mit leisen Tönen, die jedoch in die Tiefe gehen und erschüttern. Fragen über den Sinn dieses Lebens kommen auf und werden mit tiefer Religiosität beantwortet. Als hätte das Leiden seine Berechtigung in der Nähe zu Gott. Hier zu begreifen, fällt auch mir schwer. Und so kann nichts anderes getan werden, als die lebenden Mütter zu fragen, denn die toten werden nicht mehr antworten.