Mikrokosmos
Harlem: der schwarze Teil des Big Apple, der eine Vielzahl von Assoziationen wachruft. Colson Whitehead engt diese Bandbreite an unterschiedlichen Vorstellungen ein. Im Zentrum steht Ray Carney, ein aufstiegsorientierter ...
Harlem: der schwarze Teil des Big Apple, der eine Vielzahl von Assoziationen wachruft. Colson Whitehead engt diese Bandbreite an unterschiedlichen Vorstellungen ein. Im Zentrum steht Ray Carney, ein aufstiegsorientierter kleiner Geschäftsmann, der in seinem alltäglichen Leben laviert zwischen seiner Abkehr vom Kleinkriminellentum seines Vaters, um mit seinem festen Vorsatz, durch Ehrlichkeit zu einem geachteten Mitglied der Gesellschaft zu werden, und seinem Nachgeben gegenüber den vielfältigen Versuchungen und Anreizen, wodurch der Weg zu Ansehen und Besitz etwas abgekürzt werden kann.
Whitehead kultiviert einen witzigen Tonfall, dessen lakonische Wortwahl das Geschehen zunächst als turbulente Gaunerkomödie erscheinen lässt. Dahinter verbirgt sich aber das viel ernstere Anliegen des Autors. Es sind drei Episoden, die den Blick öffnen auf die Veränderungen im American Way of Life.
Während der erste Abschnitt noch burlesk ein Gaunerstück schildert, das für alle Beteiligten aus dem Ruder läuft, ist das zweite große Kapitel bereits auf einen weiteren Blickwinkel fokussiert: was an der Oberfläche sich als Rachefeldzug präsentiert, mit dem Ray eine persönliche Demütigung und Zurücksetzung quittiert, zeichnet sich in Wahrheit bereits die Unerbittlichkeit des gesellschaftlichen Überlebenskampfes ab. Der letzte Erzählstrang lässt den Leser bereits die Verbindung zur Jetztzeit knüpfen. Das Big Business rückt in den Fokus, repräsentiert durch den Bau des World Trade Center, in den sich unser unaufhaltbar aufgestiegene Ray sich als involviert erweist.
Überschaubar und tiefgründig - kleinbürgerlich und kleinkriminell - traditionsverhaftet und aufstrebend: Harlem erscheint in Whiteheads neuem Roman als Mikrokosmos, in dem der Leser ethnographische, soziologische und historische Studien treiben kann. Ray erweist sich als prototypischer Vertreter einer lokalen Species, dessen Mutationen und Milieuanpassungen im Verlaufe des Romans atemlos verfolgt werden: schwarzer Sozialdarwinismus!