Die Rezension enthält leichte Spoiler!
Inhalt
Sadies geliebte kleine Schwester wurde ermordet – damit hat Sadie alles verloren, was ihr je etwas im Leben bedeutet hat. Nun hat sie nur noch ein Ziel: Sie will Matties Mörder finden und sich an ihm rächen. // West McCray erhält einige Monate später einen Hilferuf von May Beth, der „Ziehgroßmutter“ der beiden Mädchen. Obwohl er zu Beginn eigentlich nicht will, willigt er schließlich ein, Sadie zu suchen. Er folgt ihrer Spur von Stadt zu Stadt und wird dabei immer tiefer in ihre düstere Vergangenheit gezogen. Wird er Sadie rechtzeitig finden? Kann er sie heil zu May Beth zurückbringen?
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Beltz & Gelberg
Seitenzahl: 359
Erzählweise: True-Crime-Podcast und Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt oder getötet.
Warum dieses Buch?
Da Rot nicht gerade meine Lieblingsfarbe ist, hätte ich im Laden wohl eher einen Bogen um das Buch gemacht. Doch als so viele Leser/innen so davon geschwärmt haben und ich nur Gutes darüber gehört habe, wurde ich nach und nach immer neugieriger, bis irgendwann feststand: Ich muss dieses Buch unbedingt lesen!
Meine Meinung
Einstieg (♥)
Ich habe absolut problemlos in die Geschichte gefunden, konnte sofort in sie eintauchen. An die originelle Erzählweise – den Podcast – musste ich mich nicht erst gewöhnen, vielmehr habe ich von der ersten Seite an beim Lesen West McCrays Stimme in meinem Ohr gehört.
"Es ist eine Geschichte über Familie, über Schwestern und das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt. Darüber, wie weit wir gehen, um unsere Liebsten zu beschützen ... und wie hoch der Preis ist, wenn es uns nicht gelingt.
Und sie beginnt, wie so viele Geschichten, mit einem toten Mädchen." Seite 5
Schreibstil & Aufbau (♥)
„Es verschwinden ständig Mädchen.“ Seite 21
Für ihre kreative Erzählweise hat die Autorin großes Lob verdient: Kapitel, in denen Sadie selbst zu Wort kommt, wechseln sich ab mit dem transkribierten True-Crime-Podcast des Journalisten West McCray, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die verschwundene Neunzehnjährige zu finden und sie heil zurückzubringen. Dabei verfolgt West immer fieberhafter ihre Spur von Stadt zu Stadt. Immer dichter scheint er ihr auf den Fersen zu sein, immer mehr scheint er aufzuholen. Schon auf den ersten Seiten kommt dieses typische „Podcast-Feeling“ auf, was an der mündlich geprägten Sprache und den sehr lebendigen, authentisch unperfekten Dialogen liegt. Auch, wenn ich am Anfang nicht immer wusste, wer gerade im Studio ist anwesend ist, so fühlte ich mich schon bald, als würde ich tatsächlich den verschiedenen Stimmen im Radio lauschen. Diese Erzählweise ist so wunderbar erfrischend und originell, dass mir das Lesen großen Spaß gemacht hat!
An dieser Stelle noch ein Vorschlag: Als Hörbuch wäre dieses Buch sicher auch ein ganz tolles Erlebnis. Wenn es möglich wäre, sich Wests Show wirklich anzuhören, wäre das die Kirsche auf der Torte und würde die Atmosphäre noch dichter werden lassen. Auch eine Verfilmung könnte ich mir übrigens sehr gut vorstellen.
Aber die Kapitel aus Sadies Sicht sind mindestens ebenso gelungen. Auch wenn sie am Beginn etwas langatmig wirkten und ich mich erst an Sadies Stimme gewöhnen musste, fand ich sie mit jeder Seite besser. Courtney Summers schreibt zwar einfach – was der Zielgruppe gefallen wird –, aber niemals oberflächlich. Im Gegenteil, ihre Worte sind eindringlich, bewegend und intensiv und beschreiben auf einfühlsame Weise die Gefühls- und Gedankenwelt einer Jugendlichen, die sich im Ausnahmezustand befindet. Beide Teile dieser Erzählweise greifen hierbei ineinander wie Zahnräder und verbinden sich zu einer großartigen Geschichte.
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)
Sadie und Mattie sind in einem Trailerpark aufgewachsen – als Kinder einer Drogensüchtigen und in einer Stadt ohne Perspektiven. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass diese Geschichte zum Teil auch eine Milieu-Studie ist, die das harte Leben der Unterschicht im ländlichen Amerika eindrucksvoll in all seiner deprimierenden Trostlosigkeit und Tristesse beschreibt. An diesem Ort beginnt die Geschichte. Courtney Summers ist mit diesem Roman einen mutigen Weg gegangen. Sie beschäftigt sich mit menschlichen Abgründen und sehr ernsten Themen und schafft es, diese tiefgründig, einfühlsam und für Jugendliche geeignet aufzubereiten. Trotzdem werden auch Erwachsene an der Geschichte großen Gefallen finden. Themen wie Verlust, die Sehnsucht nach Liebe, zerrüttete Familien, Drogen, Alkohol und ein Leben voller Armut und Perspektivlosigkeit behandelt die Autorin in ihrem Roman. Im Mittelpunkt stehen jedoch Pädophilie, sexueller Missbrauch, das Leid der Opfer, unverzeihliche Fehler, Schuldgefühle und Rache – Themen, die eine Herausforderung für wohl jede/n Autor/in darstellen – Courtney Summers meistert sie problemlos.
„Sadie“ verlangt seinen Leser/innen einiges ab und präsentiert ihnen eine komplexe und schmerzhafte Realität: Das Böse lauert oft dort, wo man es nicht erwarten würde, Unschuldige werden verletzt, Verbrecher kommen davon und die Hauptfigur ist eine gebrochene Frau, die einen Mord plant. „Sadie“ betet Jugendlichen nicht vor, welches Verhalten gut und welches schlecht ist, sondern spielt mit den Graubereichen zwischen richtig und falsch und lässt das Publikum selbst entscheiden.
„Sadie“ ist ein Roman, der sich mit jeder Seite mehr in mein Herz geschlichen hat, ein Roman, der mich mit jedem Satz mehr fesselte, berührte, schockierte und zum Nachdenken brachte. Auch Tage nach der Lektüre hat mich die Geschichte immer noch nicht richtig losgelassen. Wohl auch wegen des relativ offenen Endes, das mich zwar unfassbar unbefriedigt und wütend zurückgelassen hat, das aber gerade deswegen so genial ist: Courntey Summers lässt Sadies Geschichte enden, wie viele ähnliche Geschichten in der realen Welt nun einmal enden und schafft damit einen Schluss, der schockiert, bewegt und lange nachhallt. Das Buch eignet sich auch perfekt als Schullektüre – allerdings würde ich dringend empfehlen, dass es im Anschluss intensiv nachbereitet wird, um die Heranwachsenden mit ihren Gefühlen nicht allein zu lassen, um moralische Fragen zu diskutieren und deutlich zu machen, dass Selbstjustiz niemals der richtige Weg sein kann. Und um mit ihnen über Missbrauch und sexualisierte Gewalt zu sprechen und auf Hilfsangebote und Anlaufstellen zu verweisen.
„‘Menschen ändern sich nicht. Sie lernen nur, besser zu verheimlichen, wer sie wirklich sind.‘“ Seite 80
Protagonistin und Figuren (♥)
Der Verlag schreibt, dass Courtney Summers Bücher sich durch eigensinnige, kompromisslose Frauenfiguren auszeichnen – und genau so könnte Sadie beschrieben werden. Sie ist eine starke, komplexe, intelligente Heldin, die sich zwar oft härter gibt, als sie eigentlich ist, die die Leser/innen aber in selten, berührenden Momenten aber auch ihre verletzliche Seite sehen lässt. Zudem stottert sie und kann sich dadurch meist nicht so ausdrücken, wie sie möchte. Doch auch davon lässt sich Sadie nicht unterkriegen. Sie ist eine wunderbare Protagonistin, die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Auch wenn ich niemals handeln würde wie sie, konnte ich die Motive dieser trauernden, wütenden Jugendlichen, der alles genommen wurde, die nichts mehr zu verlieren hat und die gerade deshalb wie besessen an ihrem Plan festhält, den Mörder ihrer Schwester zu töten und sie damit zu rächen – auch wenn sie sich selbst dabei in große Gefahr begibt –, absolut nachvollziehen. Ihre widerstreitenden Gefühle, Ängste und Zweifel haben mich tief berührt, und die Tragik von Sadies Geschichte hat mir das Herz gebrochen.
Auch die anderen Figuren sind erstaunlich dreidimensional und liebevoll gezeichnet, obwohl die meisten Sadie nur auf einem ganz kurzen Stück ihrer Reise begleiten. Sie hat dabei das Glück, auf einige ganz tolle Menschen zu treffen. Die Figuren sind meiner Meinung nach bei einem Roman sehr wichtig – und was das betrifft, hat Courtney Summers alles richtig gemacht.
"Aber Liebe ist kompliziert, sie ist wirr. Sie kann Selbstlosigkeit hervorrufen, Egoismus, unsere größte Erfolge und unsere schlimmsten Fehler. Sie bringt uns zusammen und kann uns genauso gut auseinanderreißen." Seite 155
Spannung & Atmosphäre (♥)
Dabei schafft es die Autorin nicht nur, große Emotionen auszulösen, sondern auch atemlose, unheilvolle Spannung und eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Immer wieder hatte ich beim Lesen Gänsehaut, immer wieder konnten mich Wendungen vollkommen überraschen. Je dichter West Sadie auf den Fersen war, desto schneller habe ich gelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und weil ich so gehofft habe, dass er Sadie finden und heil nach Hause bringen kann, bevor sie eine Dummheit begeht oder ihr etwas Schlimmes zustößt. Über allem liegt ein gewisser Zeitdruck: Man hat beim Lesen ständig das Gefühl, dass West die Zeit davonrennt, was einen die Seiten automatisch noch schneller umblättern lässt. Ein Treufelskreis entsteht – und ein unglaublicher Pageturner, der auch euch nicht kaltlassen wird!
Feministischer Blickwinkel (♥)
Was diesen Aspekt betrifft, gehört die Autorin mit Lob überschüttet: Sie setzt eine starke, furchtlose junge Frau ins Zentrum ihrer Geschichte, erlaubt Männern zu weinen (ohne dass sie dafür jemals verurteilt werden), adressiert LGBTQAI-Aspekte, kritisiert toxische Männlichkeit (Missbrauch, Sexismus, Gewalt gegen Frauen) und zeigt auf, wie gefährliche die Welt für junge Frauen und Kinder auch heute leider noch ist. Nirgends sind sie sicher: Nicht in fremden Autos, wenn sie trampen, nicht beim Sporttraining – nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Das stimmt übrigens: Die größte Gefahr für Frauen und Kinder geht nicht vom Fremden aus, der sie ins Auto locken will oder ihnen in einer dunklen Gasse auflauert – sondern von Freunden, Bekannten und der eigenen Familie. Danke an Courtney Summers dafür, dass sie versucht, mit diesem Buch aufzurütteln und uns zu ermahnen, ganz genau hinzusehen. Missbrauch kann nämlich jede/n treffen – auch die geliebte Nichte, den kleinen Bruder oder das eigene Kind.
Mein Fazit
„Sadie“ ist ein originell geschriebener, rundum gelungener Jugendthriller, der mich absolut begeistern konnte. Das lag unter anderem am einfachen (perfekt für die Zielgruppe geeigneten), aber unheimlich eindringlichen, einfühlsamen und intensiven Schreibstil, an der liebevollen Figurenzeichnung und an der kreativen Erzählweise, die Kapitel aus Sadies Sicht und einen True-Crime-Podcast gelungen verbindet. Mit Sadie hat die Autorin eine starke, mutige, kompromisslose und tragische Hauptfigur geschaffen, die auch ihre schwachen Momente hat, mit der ich mitfühlen und mitleiden konnte und die mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen ist. Atemlose spannend, wendungsreich und atmosphärisch dicht behandelt Courtney Summers schwierige Themen wie sexuellen Missbrauch, Trauer, Schuld- und Rachegefühle tiefgründig und eindrucksvoll. Dabei gelingt es der Autorin, uns aufzurütteln und uns zu ermahnen, ganz genau hinzusehen. Missbrauch kann nämlich jede/n treffen – auch die geliebte Nichte, den kleinen Bruder oder das eigene Kind. Die Geschichte hat mich aufgewühlt, schockiert, berührt, mitgerissen und mich nach der Lektüre lange nicht losgelassen.Fazit: "Sadie" ist ein großartiges Jugendbuch, das mir das Herz gebrochen hat – möglicherweise sogar das beste des Jahres.
Empfehlung: Das Buch ist auch als Schullektüre geeignet. Im Anschluss sollte das Buch aber auf jeden Fall intensiv mit den Jugendlichen nachbesprochen werden, um sie nicht alleine mit ihren (ohne Zweifel aufgewühlten) Gefühlen zu lassen, um über Moral und Selbstjustiz zu diskutieren und um mit ihnen über Missbrauch, sexualisierte Gewalt und Hilfsangebote zu sprechen.
Uneingeschränkte Leseempfehlung!
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥
Insgesamt:
❀❀❀❀❀♥ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!