Beeindruckender Roman über die Potsdamer Konferenz
„...Geisterkinder? Fassungslos starrte Nina ihre Urgroßmutter Karla an. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?...“
Mit diesen Sätzen beginnt ein fesselnder und exakt recherchierter historischer Roman. ...
„...Geisterkinder? Fassungslos starrte Nina ihre Urgroßmutter Karla an. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?...“
Mit diesen Sätzen beginnt ein fesselnder und exakt recherchierter historischer Roman. Er führt uns an eine entscheidende Stelle der jüngeren deutschen Vergangenheit. Wo endet Schuld? Was hätte man wissen können oder müssen? Das sind nur zwei Fragen, die immer wieder auftauchen. Im Vorwort erläutert die Autorin, was sie zum Schreiben des Buches bewogen hat.
Die 25jährige Nina wurde dazu verdonnert, mit ihrer 94jährigen Großmutter eine Reise in die Vergangenheit anzutreten. Eigentlich hatte sie dazu keine Lust. Doch der Begriff Geisterkinder weckt ihr Interesse. Wie formuliert es Karla, bevor die Geschichte ins Jahr 1945 wechselt?
„...Herausforderungen bergen stets auch etwas Positives in sich. Sie geben dir die Chance, dich an ihnen zu reiben, zu kämpfen, an ihnen zu wachsen und aufzuleben. Sie bringen dich dazu, Grenzen zu überschreiten, und formen deinen Charakter...“
Es war Karlas 20. Geburtstag im Jahre 1945, als ihr Leben eine entscheidende Wende nahm. In Potsdam trifft sie auf die britische Agentin Joan, die für die Organisation der Potsdamer Konferenz auf britischer Seite verantwortlich war. Joan rettet sie aus einer brisanten Situation und stellt Karla ein, die sowohl Englisch, als auch Französisch und Russisch spricht.
Karla und ihre jüngeren Geschwister gehörten zu den sogenannten Geisterkindern, besonderen Gefangenen des Naziregimes. Weil ihr Vater am Attentat an Hitler beteiligt war, wurden sie in Sippenhaft genommen. Ihr älterer Bruder Konrad gilt als verschollen. Welche Spuren die Monate der Inhaftierung bei den jüngeren Geschwistern, aber auch bei der Mutter, hinterlassen haben, wird im Buch deutlich dargelegt. Für meine Rezension ist das kein Thema, denn es würde den Rahmen sprengen. Ich möchte mich auf Karla konzentrieren.
Vor dem Krieg hatte der Vater die Familie in ihr Haus im Schwarzwald geschickt. In dörflicher Idylle lebten sie fast abgeschottet von den politischen Ereignissen. Letzte Erinnerung an Berlin und die jüdischen Freunde wurden fehlinterpretiert oder verdrängt.
Nun muss Karla erleben, dass ihr mit Misstrauen begegnet wird. Das gilt nicht nur für die Alliierten. Deutsche, die zur Arbeit herangezogen wurden, betrachten Karla wegen der Tat ihres Vaters als Verräterin am deutschen Volk. Sie steht also zwischen allen Fronten. Joan klärt sie nicht nur über die Konzentrationslager, sondern auch über die Zahl der Kriegstoten auf.
„...Der Krieg und alles, was er im Gepäck gehabt hatte, hatte die Lebensfreude der Menschen weggewischt, intensiver noch, als es ein Schwamm mit Kreidebuchstaben auf der Tafel verstand...“
An Joans Seite lebt Karla gefährlich. Zwar lernt sie sowohl Churchill, als auch Truman und Stalin kennen, doch der Generalissimo ist nicht ungefährlich und befürchtet, nicht ohne Grund, überall Spione.
Ein einziges Mal fragt Joan Karla nach ihrem Glauben.
„...“Wo ist Gott?“ „In jedem Lächeln, dass man einem verängstigten Mitmenschen schenkt?“ Klara klang fragend. Kläglich und unsicher. „In jeder Hand, die sich einem fremden Kind entgegenstreckt, das Hilfe und Trost sucht.“ ...“
Ausführlich werden die politischen Geschehnisse beschrieben. Auch die Örtlichkeiten hatte ich sofort vor Augen. Hier zeigen sich die umfangreichen Recherchen der Autorin. Selbst die Möbel in den Verhandlungsräumen auf Schloss Cecilienhof werden erwähnt. Natürlich sind auch die Widersprüche zwischen den Verhandlungspartnern ein Thema.
Ab und an schwingt eine feiner Humor mit.
„...Und dies, obwohl Karla der festen Überzeugung war, dass der verbrüdernde Qualm von Churchills Zigarre und Stalins Zigarette die Insekten eigentlich fernhalten müsste….“
Deutlich herausgearbeitet wird Karlas innerer Zwiespalt. Je mehr sie erfährt, desto klarer wird ihr die Schuld. Andererseits möchte sie nicht, dass ihr Deutschland und seine Bevölkerung völlig ausbluten. Viele Diskussionen mit Joan und Ray gehen um Wissen und Schuld. Es sind Sätze wie die folgenden, die die Schwierigkeiten der Zeit beschreiben.
„...Die Menschheit hatte zu hassen gelernt. Und dieses starke Gefühl wurde man nicht los, nur weil ein paar Generäle und Staatsmänner ihre Unterschrift auf ein Stück Papier setzten. Hass zerfrisst die Seele...“
Natürlich fehlt auch ein Schuss Romantik nicht. Ray, der Karla anfangs mehr als skeptisch gegenüberstand, muss sich nach und nach seinen Gefühle stellen. Karla erwidert sie, zieht aber klare Grenzen, denn solche Beziehungen sind verboten.
Die Autorin versteht es, mir als Leser die historischen Personen als Menschen mit Stärken und Schwächen nahezubringen. Viele der Akteure des Romans haben wirklich gelebt.
Ein ausführliches Nachwort zu den historischen Personen rundet das Buch ab.
Die Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Beigetragen dazu hat nicht zuletzt der ausgefeilte Schriftstil der Autorin. Er macht das Lesen zum Vergnügen.
Beschließen möchte ich meine Rezension mit einem Gedanken von Joan. Wie sie wohl Jahre später darüber gedacht haben mag?
„...Aber sie sah es als ihre Pflicht an zu ermöglichen, dass derlei Aufarbeitung stattfinden konnte. Dass die kollektive Aufarbeitung auf die Verbrechen gelenkt wurde [..]. Denn nur so konnten die Ursachen erforscht werden, verstand man vielleicht, wie es dazu hatte kommen können...“