„...Von draußen schien, wie vom Wetterbericht angekündigt, die frühe Sonne herein und ließ die beiden an der Tür und im Flur wie feine Scherenschnitte aussehen, die sich in einer zweidimensionalen Welt getroffen hatten und auf die jeweilige Reaktion des anderen warteten...“
In Graz spielt der vielleicht fünfjähriger Anton gerade mit seinem neuen Zauberkasten. Dann zerbricht seine Welt. Er erlebt die versuchte Vergewaltigung und den Tod seiner Mutter mit. In dergleichen Stadt verfolgt die 10jährige Willa einen Taschendieb und sorgt dafür, dass er gefasst wird. Willa ist voller Wut, weil ihr geliebter Onkel Willi wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Damit ist ihre kleine Welt zusammengebrochen.
Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen. Aus Kindern werden Leute. Anton lebt in Köln und hat sich eine Internetfirma aufgebaut. Frauen mochten ihn. An der Theke einer Bar spricht ihn eine ältere Frau an. Eigentlich will er nichts von ihr. Aber ihr Angebot, ihn zu begleiten, kann er auch nicht ablehnen, weil er ihr nicht weh tun möchte. Am nächsten Morgen ist die Frau tot, und Anton sitzt geschockt neben ihrer Leiche. Er schweigt, auch in Haft.
Willa arbeitet als Inspektor bei der Grazer Polizei. Gerade hat sie einen Fall erfolgreich abgeschlossen, da erhält sie die Möglichkeit, erneut in Köln zu arbeiten. Etwas Besseres kann ihr nicht passieren, denn bei ihrem letzten Aufenthalt hat sie sich dort wohl gefühlt. Sie soll Anton zum Reden bringen.
Die Autorin hat einen spannenden Krimi geschrieben. Die Geschichte lässt sich gut lesen und hat mich schnell gefesselt.
Die Protagonisten werden gut charakterisiert. Sie haben viele positive Eigenschaften, aber auch Ecken und Kanten. Vor allem Anton und Willa sind von ihrer Vergangenheit geprägt. Die gemeinsame Herkunft und die unverarbeitete Kindheit wird nicht ohne Folgen für die Begegnung zwischen dem Inhaftierten und der Kriminalistin bleiben. Dieses Spannungsfeld gibt dem Krimi sein besonderes Gepräge.
Beeindruckt bin ich vom Schriftstil der Autorin. Es ist das erste Buch, das ich von ihr gelesen habe, aber mit Sicherheit nicht das Letzte. Schon auf den ersten Seiten bin ich als Leser mitten im Geschehen, darf das aber durch die Augen eines Kindes sehen. Dadurch wirkt es besonders eindringlich. Ab und an kommen Täter zu Wort. Das geschieht nach dem Tode von Antons Mutter. Der Täter reflektiert das Geschehen.
In der Gegenwart gibt es Tagebuchnotizen – kurz, prägnant, aussagekräftig. Sie geben einen tiefen Einblick in die Psyche des Schreibers. Und sie schicken mich als Leser auf eine Spur, von der ich nicht weiß, ob es die richtige ist. In Köln wird Willa ihren Onkel nach Jahren wiedertreffen. Obiges Zitat beschreibt die ersten Minuten ihrer Begegnung. Auch hier zeigt sich der gekonnte Umgang der Autorin mit Sprache und Metaphern. Es ist die Beschreibung eines kurzen Moments des Stillstands, des Verharrens, bevor das Leben weitergeht. Emotionen spielen im Buch eine entscheidende Rolle. Sie werden weniger durch Worte, mehr durch Taten vermittelt. Eine unerwiderte Liebe, die nicht aufgibt, eine Wut, die sich entlädt, eine Sehnsucht, die auf der Suche ist nach einer Heimat und ankommen möchte, sind einige Beispiele dafür.
Nebenbei gelingt es der Autorin, mich beim Mitraten gekonnt in die Irre zu führen. Dazu dienen falsche Spuren, aber auch die komplexen Beziehungen zwischen den Protagonisten.
Das Cover mit Handschuh und Zylinder passt.
Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Die konsequent erzählte Geschichte, die mich in die psychischen Tiefen der Protagonisten führt, und der ausgefeilte Schriftstil haben mich begeistert.