Judith Merchant spielt gekonnt mit dem Leser
Obwohl ihr Mann Martin sie davon abhalten möchte, fährt Esther zu ihrer Schwester, die im Wald ein großes Haus alleine bewohnt. Am Tag vor Weihnachten möchte sie ihr ein Geschenk und eine Flasche Wein ...
Obwohl ihr Mann Martin sie davon abhalten möchte, fährt Esther zu ihrer Schwester, die im Wald ein großes Haus alleine bewohnt. Am Tag vor Weihnachten möchte sie ihr ein Geschenk und eine Flasche Wein bringen – und sie dazu bewegen, mit zu ihr zu fahren, um nicht allein zu sein. Sue möchte allerdings ihre Ruhe und zwar so richtig, besonders vor ihrer dominanten Schwester. Die eine will die andere überzeugen und auf einmal ist nichts mehr, wie es mal war …
Für mich ist dies das erste Buch der Autorin Judith Merchant. Ich vermute allerdings, dass es nicht das letzte gewesen ist, denn sie hat mich mit ihrem Stil und ihren schriftstellerischen Tricks komplett abgeholt. Sie lässt sowohl Sue, als auch Esther ihre Sicht der Dinge erzählen und den Leser selbst entscheiden, wem er glauben möchte. Mit der Zeit tauchen noch andere Perspektiven bzw. Einschübe und Rückblicke auf, die den Leser eher verwirren, denn schlauer machen. Und genau das finde ich enorm gelungen, denn so seltsam es aussieht, so gut passen die Puzzleteilchen zusammen und ineinander.
Permanent wechselt man vom Team Esther ins Team Sue und wieder zurück. Die Kindheit der beiden Schwestern wird ebenfalls zum Thema, genau wie das engere Umfeld damals und heute. Obwohl auf langen Strecken gar nichts Schlimmes passiert, ist man in den Bann der Geschichte geschlagen und kann kaum aufhören zu lesen. Schon allein die recht kurzen Kapitel entwickeln einen gewissen Sog. Die sich geradezu beißenden Aussagen und Ansichten der Schwestern verstärken diesen Sog noch.
So außergewöhnlich die Charaktere allesamt sind, so glaubwürdig sind sie dennoch. Es ist faszinierend, wie die Autorin den Leser führt und verführt, erleuchtet und blendet, beruhigt und aufregt. Es ist ein Wechselbad der Gefühle und damit ein Leseerlebnis sondergleichen.
Es gibt allerdings eine Stelle, die in meinen Augen ungeklärt und unvollständig ist. Das stört mich und ich will wissen, was da nun wirklich los ist oder war. Für mich ist das sehr wichtig und deshalb macht es mich unzufrieden. Mehr darüber zu schreiben wäre ein fetter Spoiler, den ich nicht bringen kann und möchte. Für die meisten wird das kein Problem sein, aber für mich ist es Grund, einen Stern abzuziehen.
Dennoch ist dieser Psychothriller eins der Highlights meines Lesejahres und ich gebe vier Sterne.