In meiner Kindheit hat meine Mutter ein tolles Sauerteigbrot gebacken. Den Sauerteig dazu hatte sie von der Nachbarin bekommen. Beide Sauerteige wurden gefüttert und weitergegeben. Irgendwie wollte immer jemand etwas davon haben. Es war modern, es war ein Trend, es war schön. Ich habe leider keine Ahnung, was aus dem Teig wurde (ich meine mich erinnern zu können, dass er Fritzchen hieß) und leider finde ich in den Unterlagen meiner Mama auch nicht mehr das Rezept für das Brot, das ich damals sehr mochte.
Wie es im Leben im Laufe der Jahre so geschieht, lief sich das mit dem Sauerteig irgendwann tot. Die Welt wurde hektischer. Niemand hatte mehr Zeit und Lust zum Brotbacken. Es wurde fast sogar altbacken. Die Welt hat sich weitergedreht und alles wurde moderner und schnelllebiger. Die kleinen Läden starben aus, Discounter wuchsen in den Himmel. Und nun kommt Lutz Geißler daher, der Mann, der mir den Mut gab, mein eigenes Brot nach seinem genialen Buch „Brot backen in Perfektion“ zu backen, und wischt vierzig Jahre weg. Einfach mal so. Tut, als hätte es niemals diesen unseligen Trend mit den Brotbackautomaten (empfinde denn nur ich Brot aus solchen Geräten prinzipiell als muffig und ungenießbar?) gegeben und stellt uns einfach ein Glas Sauerteig vor die Nase.
Er erklärt schrittgenau, wie man den Sauerteig selbst ansetzt und lehrt uns, ihn weiterzugeben, zu füttern, zu verarbeiten, zu vermehren, zu teilen. Ein ganz neues Lebensgefühl! Ach, nein – das gab es ja schon einmal … Hach! Ein wunderbar nostalgisches Lebensgefühl, die Kindheit kommt zurück, die schönsten Jahre leben wieder auf. Auch wenn ich nicht der allergrößte Sauerteigbrot-Fan (außer dem meiner Mama, dessen Rezept mit dem letzten Fritzchen verschwunden ist) bin, das Prinzip und das Gefühl – einfach wunderbar!
Das Buch ist klein und dünn, aber darin steckt enorm viel. Judith Stoleztky und Lutz Geißler legen allen Brotbackfans hier ein fast schon philosophisches, ganz sicher aber poetisches Werk in die Hände. Sie erzählen vom Sauerteig, Rezepte im üblichen Sinn findet man hier nicht. Es gibt die Anleitung für den Ansatz und das Füttern und wie man den Sauerteig verarbeitet. Alles andere überlassen die beiden dem Leser. Im Grunde gibt es nur ein einziges wirkliches Rezept, aber wie das mit Sauerteig so ist: jedes Brot wird anders!
Anleitungen für das Ansetzen und Verarbeiten von Sauerteig finden sich im Netz massenhaft. Aber keine geht so tief in das Thema selbst, vermittelt so schön das Feeling, das ich in den späten 1970ern und frühen 1980ern hatte, schenkt mir eine so schöne Zeitreise. Brot backen ist viel mehr, als nur Teig machen und formen und in den Backofen schieben. Und auch wer lieber Hefebrot isst, wird sich mit diesem Buch wohlfühlen – denn es geht um eine Lebenseinstellung, nicht nur um schnöde Technik. Spätestens die Fotos am Ende des Buches werden verdeutlichen, welche Kraft im Sauerteig steckt!
Gefällt mir! Gefällt mir außerordentlich gut! Das gibt eindeutig fünf Sterne.