Belgien während der Jahrtausendwende: In dem kleinen verschlafenen Dorf Bovenmeer wachsen die „drei Musketiere“ Eva, Pim und Laurens auf. 13 Jahre später kehrt Eva in ihr Heimatdorf zurück, mit nichts weiter als einem riesigen Eisblock und einem mindestens genauso großen Trauma im Gepäck. Mit der Geschichte hinter dieser mysteriösen Buchbeschreibung eroberte die Autorin Lize Spit die belgische Bestsellerliste im Sturm und hielt sich ein ganzes Jahr auf dem ersten Platz.
Die Erzählung beginnt eigentlich ganz sanft. Eva ist 13 und eng mit Pim und Laurens befreundet, den einzigen gleichaltrigen Kindern in Bovenmeer. Getreu dem Motto der drei Musketiere „Einer für alle, alle für einen“ drücken sie gemeinsam die Schulbank und verbringen auch den Großteil ihrer Freizeit auf dem Bauernhof von Pims Eltern. Bei Eva daheim sind sie dagegen nie. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, ihr Vater suizidgefährdet, ihre kleine Schwester Tesje entwickelt nach und nach Zwangsneurosen, für die sich kein Erziehungsberechtigter zu interessieren scheint, und der große Bruder Jolan schottet sich so weit es geht von der Familie ab, versteckt sich lieber hinter Büchern und wissenschaftlichen Fragestellungen. Trotz allem erzählt Lize Spit zunächst ruhig, sanftmütig und fast schon lustig von Evas Kindheit. Es könnte alles so idyllisch sein, wenn man mal von Evas Heim absieht.
Langsam aber sicher werden die drei Musketiere jedoch erwachsen und wollen ihre Grenzen austesten. Anfangs lies ich den Dreien vieles durchgehen, verharmloste und rechtfertigte dies damit, dass Jugendliche eben so sind. Nach und nach wurde mir jedoch immer bewusster, dass die Handlungen Ausmaße annehmen, die die Grenzen des guten Geschmacks deutlich überschreiten. Lize Spit steuert ihre Protagonisten auf eine Katastrophe zu, die der Grund ist, warum Eva mit Mitte 20 wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Es gelingt ihr nicht, mit den Ereignissen des Sommers 2002 abzuschließen.
"Ich bestehe nicht länger aus einem Körper, sondern aus einer ganzen Gruppe von Menschen, die alle in eine andere Richtung gerannt sind." (S.53)
Der Schauplatz Bovenmeer spielt bei dieser Entwicklung eine große Rolle und vereint so gut wie alles, was im Jahre 2002 eigentlich schon undenkbar sein sollte: Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Tierquälerei, Erniedrigung von behinderten Menschen. Es gab so viele Aspekte, die mich unfassbar wütend zurückgelassen haben. Keine einzige Person in diesem konservativen und gelangweilten Dorf war nicht vollkommen auf sich selbst fixiert. Keiner war bereit, für jemand anderen einzustehen. Es ging nur darum, nicht aufzufallen, der Dorfgemeinde keinen Klatsch und Tratsch zu liefern, egal, ob dabei der körperliche oder seelische Schaden eines Lebewesens in Kauf genommen werden musste. In diesem Buch wird auf eine schockierende Art und Weise gezeigt, wie die Zeit in Bovenmeer stehen geblieben ist und wie ignorant die gesamte Dorfgemeinde gegenüber jeglichem Fehlverhalten ist. Obwohl die meisten Bewohner passiv auftreten, machte sie das in meinen Augen nicht weniger schuldig und damit meine ich auch Eva, die zwar am Ende jenes Sommers selbst zum Opfer wird, bis dahin aber auch immer nur eine Mitläuferin war, auch wenn sie die immer extremeren Aktionen ihrer Freunde Pim und Laurens sehr wohl bemerkt hatte.
"[Ich stelle mir vor,] dass ich ein x-beliebiges Mädchen bin, dass meine Vagina nicht mir gehört. Das ist wichtig. Wenn dies nicht mein Körper ist, braucht auch die Scham nicht meine zu sein." (S. 279)
Lize Spits Schreibstil ist großartig. Sie beschreibt detailliert und lebendig, verliert sich niemals in Nebensächlichkeiten und wusste mich zu fesseln. Genau dadurch wirken einige Szenen auch so knallhart. Ich war schockiert, fassungslos, angewidert, wütend, traurig und habe vor allen Dingen selbst körperliche Schmerzen beim Lesen gespürt. Dieses Buch ist nichts für zarte Gemüter, es ist eine Wucht und bereitet mir auch noch Tage nach dem Beenden Kopfzerbrechen.
"Wenn es möglich wäre, würde ich jetzt gern eindimensional werden, zeitreisen, in dieses Foto kriechen, in diesen Moment schlüpfen, Tesje vor dem warnen, was ihr bevorsteht, sagen: Mach, dass du hier wegkommst. […] Das könnte ich sagen, aber es würde wenig ändern. Wäre vor zwanzig Jahren eine dreißigjährige Version meiner selbst plötzlich aufgetaucht und hätte gesagt: „Ich weiß, was passieren wird, mach, dass du hier wegkommst“, dann hätte ich mich keinen Zentimeter bewegt. Dann wären Tesje und ich einfach sitzen geblieben, nicht, weil wir glücklich waren, sondern weil Dinge erst geschehen müssen, bevor man sie bereuen kann." (S. 328f)
Fazit:
„Und es schmilzt“ ist stilistisch wunderbar, weswegen es inhaltlich gleich doppelt und dreifach wehtut. Mit dem Gedanken, dass die beschriebenen menschlichen Abgründe realer sein könnten, als ich glauben will, bleibe ich zurück. Ich weiß nicht, ob gerade das den Roman absolut genial oder ein bisschen zu eindimensional macht. Lesenswert ist das Debüt auf jeden Fall, jeder muss sich aber darüber im Klaren sein, dass dieses Buch keine leichte Kost ist und dass die Schmerzen, die Lize Spit beim Lesen zufügt, noch einige Zeit erhalten bleiben.