Leise Töne mit unüberhörbarer Intensität
| © Janna von www.KeJas-BlogBuch.de |
Viele waren erschüttert nach dem Lesen. Viele hatten das Bedürfnis über das Gelesene zu sprechen. Ein Titel von Abbruch bis Jahreshighlight. Eine Geschichte wundervoll ...
| © Janna von www.KeJas-BlogBuch.de |
Viele waren erschüttert nach dem Lesen. Viele hatten das Bedürfnis über das Gelesene zu sprechen. Ein Titel von Abbruch bis Jahreshighlight. Eine Geschichte wundervoll erzählt. Ein Buch das mich erschreckt! Aber auf ganz anderer Ebene, als man zunächst annehmen mag …
Das erste Buch bei dem ich nicht weiß wie und wo ich wirklich anfangen soll. Ich werde zunächst versuchen eher grob zu bleiben und später auf kommende Spoiler hinweisen. Wobei schon jetzt der Punkt gekommen ist, mich zu fragen, kann man überhaupt spoilern? Denn ich finde darauf muss vorbereitet werden, das ist kein Buch welches mal eben einfach gelesen werden kann. Es kann triggern, es löst etwas aus, es ist detailliert!
[Trigger – auslösender Reiz, Psychologie | Beschriebene Szenen können erlebte Traumata erneut erleben lassen]
Ich habe kurz vor dem Beenden des Buches einen Instagram-Post zum Inhalt gemacht und war positiv überrascht, als der Fischer-Verlag diesen auf Twitter teilte. Warum? Weil ich deutlich gemacht habe, das ich es unverantwortlich finde, nicht auf das hinzuweisen, was die Leserinnen erwartet.
Es sind weitaus alltäglichere Szenarien, als viele von Euch sich vielleicht eingestehen wollen und nur der kleine Satz auf dem Klappentext lässt erahnen, wohin die Geschichte die Leserinnen führen könnte – Eva versuchte den Sommer zu vergessen, indem ihre zwei Freunde zu ihren dunkelsten Dämonen wurden – dies sagt so viel und nichts. Und doch beinhaltet dieses Buch alles.
Missbrauch, Misshandlungen, Alkoholismus, Zwangsverhalten – dies schildert im Groben womit sich die Geschichte befasst, womit sich die Leserinnen automatisch auseinander setzen. Mögliche Trigger-Szenen sind im gesamten Buch zu finden. In Evas Vergangenheit, ihrer Familie, ihren Freunden, ebenso in ihrer Gegenwart. Diese einschneidenden Erfahrungen, Erlebnisse und die daraus resultierenden Konsequenten. Sehr distanziert und doch mit voller Wucht. Somit sollte sich überlegt werden ob und wann zu dem Buch gegriffen wird.
Ich begann zu lesen und viele Seiten fragte ich mich, was so viele aufwühlte. Wobei, so ganz stimmt dies nicht. Es ist früh zu erahnen, nur nicht greifbar und schon gar nicht wissend, auf welchen Weg die Autorin einen schubst. Vielmehr ist es die distanzierte Art der Erzählung, welche später detailliert und mit voller Wucht zuschlägt. Genau dies kritisierten einige Leserinnen, sie hätten durch die Distanz keinen wirklich Bezug zu Eva aufbauen können. Ich persönlich finde es für dieses Buch sehr passend. Aus der Ich-Perspektive begleiten wir Eva von ihren frisch angebrochenen Tagen als Jugendliche und begleiten sie auf ihrer Fahrt zurück dahin.
Eva. Tesje. Jolan. Drei Geschwister, vier Schatten (S. 22). Seit Jahren liegt ein grauer Schleier über der Familie. Und bereits zu Beginn wird deutlich, das sich die Familie darin verloren hat, schlimmer noch, aufgegeben. Eva, das mittlere Kind, hat eine Verantwortung übernommen die nicht ihre ist. Sie hat eine Rolle innerhalb des Familiensystems eingenommen die kaum tragbar ist und doch hat sie diese Verantwortung übernommen. Mutter und Vater waren dazu nicht imstande. Schon früh wird deutlich das Liebe in diesem Hause vergebens gesucht wird und jeder seinen eigenen Weg geht. Die Mutter mit den gleichen schweren Gedanken wie der Vater, mit einer ähnlichen Flucht. Nur während sie sich in Schweigen hüllt, nimmt der Vater jeglichen Zentimeter ein. Eva hat gelernt zu beobachten, einzuschätzen.
"[…] Achselzucken. Jedes Mal denke ich, dafür müsste unbedingt ein anderer Körperteil gewählt werden, notfalls eine andere Gebärde. In der Anatomie der Achseln gibt es, im Gegensatz zu den Augenbrauen, nicht genug Spielraum für Nuancen.“
(Seite 14)
Eva achtet auf Feinheiten um ihre Umgebung im Ganzen aufzunehmen und einzuschätzen. Ihr Bruder zieht sich zurück, ist fast nur am Rande wahrzunehmen. Und ihre kleine Schwester schreit tonlos. Alle drei Geschwister tragen tiefe Risse mit sich. All dies nimmt viel Raum ein in der Erzählung und doch ist es fast nebensächlich. Der Schmerz.
Eva. Pim. Laurens. Jan. Ebenfalls drei Freunde, vier Schatten. Evas Rückzugsort, ihre Flucht. Zwei Jungen, ein Mädchen. Eva ist mit ihnen aufgewachsen, es fällt ihr schwer Anschluss zu anderen Mädchen aufzubauen. Die zwei Jungen und Laurens Mutter sind ihr Halt, den sie nicht verlieren will. Vielmehr ist es besonders Laurens Mutter, ihre kleinen Gesten, die sie so sehr braucht. Eine kleine Nebenrolle, die für Eva große Bedeutung hat und für die Leserinnen Seite für Seite einen bitteren (Bei)Geschmack erhält.
"Dann fehlt mir etwas. Alles. Als wäre ich einmal vollständiger gewesen und etwas in mir erinnert sich noch an dieses Gefühl."
(Seite 21)
Es ist die Art der Erzählung, das Zusammensetzen einzelner Worte zu bedeutungstiefen Sätzen. Ich habe mich in diesem Schreibstil verloren. Gelungen, für mich!
Für einige andere Leserinnen nicht. Zu viel Distanz, zu wenig Erklärung. Dies braucht es nicht für mich. Manchmal braucht es die Distanz. Eben diese Distanz lässt viele Leserinnen das Buch überhaupt beenden. Und eben diese Distanz ist auch ein Schutzmechanismus, etwas von außen betrachten, von sich wegzuschieben.
Ein warum ist in diesem Bch nicht zu finden. Ein Bedürfnis der Leserinnen. Antworten. Etwas geschieht und alles geht weiter, nimmt seinen gewohnten Lauf. Kein Inne halten. Keine Aufarbeitung.
"Alles ist unverändert, aber nichts ist mehr das, was es war."
(Seite 467)
Der Sommer den Eva vergessen wollte. Der Sommer den sie nie los wurde. Der Sommer welcher aus ihr eine Frau machte, die sich ihren Dämonen nicht stellen konnte. Eine Frau die im Schatten dieser heißen Tage lebt. Eine Konsequenz, dessen Schritt aus der Vergangenheit heraus gemacht wird. Zu viel des „Guten“? Es ist passend gewählt, eine deutliche Verbindung mit dem damaligen Sommer und dem jetzigen Winter.
Ich möchte nicht weiter auf das Ende eingehen, da es sonst an Kraft verliert. Und doch habe ich eigentlich noch viel dazu zusagen. Ob ich persönlich so handeln würde ist eine andere Frage, aber ich kann es verstehen. Und ich verstehe was die Autorin damit vermitteln möchte. Oder vielmehr glaube ich zu wissen, warum die Autorin diesen Ausgang gewählt hat.
Das Buch allein ist für mich absolut gelungen und wunderbar geschrieben, aber mit solch einer Veröffentlichung, die darin beschriebenen Erfahrungen, Erlebnisse und Traumata, tragen Autor*in und Verlag eine Verantwortung! Diese fehlt mir, die Vorbereitung auf die detaillierte Beschreibung, auf das was im Buch thematisiert wird. Und eben aus diesem Grund kann und will ich dem Buch meinerseits keine uneingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.