Wichtig, eindringlich, grandios erzählt
TW: Suizid, sexualisierte und körperliche Gewalt, Essstörung, selbstverletzendes Verhalten
Inhalt:
Es wird ihr alles zu viel. Der Mental Load, der scheinbar in einer Parallelwelt lebende Ehemann, die ...
TW: Suizid, sexualisierte und körperliche Gewalt, Essstörung, selbstverletzendes Verhalten
Inhalt:
Es wird ihr alles zu viel. Der Mental Load, der scheinbar in einer Parallelwelt lebende Ehemann, die Kinder, welche stets verlangen, rufen, toben, die Pandemie, die Einsamkeit und der Satz "Haben wir kein Salz" am viel zu lauten, viel zu vollen Esstisch. Und Helene steht auf, geht auf den Balkon und springt wortlos in den Tod, verlässt ihre Familie, ihre beiden kleinen Söhne Maxi und Lucius ihre fünfzehnjährige Tochter Lola, ihre beste Freundin Helene.
Und diese Menschen versuchen, weiterzuleben. Sarah übernimmt allzu schnell und allzu leicht Helenes Rolle und merkt erst nach Wochen, was schief läuft, Lola kann vor Verachtung für die Frauen in ihrem Leben nicht mehr essen und schlafen und so sucht jede ihren Weg, mit der Trauer umzugehen oder ihr Ventil, um die Wut zu kanalisieren.
Der Beginn:
Natürlich war es klar, dass ich dieses Buch einfach lesen musste, nachdem mir "Dunkelgrün fast schwarz" so sehr und "Das Licht ist hier viel heller" immer noch sehr gut, wenn auch weniger gut gefallen hat. Angefixt durch die begeisterten Rezensionen, die lobenden Worte, die tiefgründigen, lauten, wütenden, rotzigen, packenden Schnipsel, welche Mareike Fallwickl bei Instagram bereits veröffentlicht hatte, habe ich mir das Buch vorbestellet und hielt es dann wenige Tage nach dem Erscheinungstermin in den Händen. Aber die ersten Seiten haben nicht das geweckt, was ich zu spüren erwartete. Einige schrieben von Tränen, von Schmerz, mir war dieser Anfang zu schlicht und offensichtlich. Bei mir dauerte das ein wenig länger, aber dann wurde ich um so heftiger gepackt.
Die Wut, die bleibt:
Irgendwann kam die Wut. Vielleicht, als Sarah plötzlich beginnt, bei Helene zu putzen, vielleicht, als Helenes Mann Johannes einmal mehr mitten im grössten Chaos das Haus verlässt und sich um nichts kümmert, auch nicht um seine Kinder, vielleicht, als diese kleinen Kinder nicht mehr aufhören, sich gegenseitig zu ärgern, vielleicht, als Lola und ihre beste Freundin erleben müssen, wie ihre Grenzen von Männern nicht respektiert werden.
Was wurde ich - einmal mehr - wütend auf eine ganze Generation von Frauen, welche sich ganz selbstverständlich in den Haushalt hineingefügt, ihrem Mann den Rücken freigehalten, ihre Kinder bespasst und dabei ihre eigenen Ziele und Träume aufgegeben haben. Ohne zu fordern, ohne für sich einzustehen, ohne ihren Kindern gute Vorbilder zu sein, ohne diesen eigentlich genau die Werte mitzugeben, welche sie ihnen mitgeben wollten, weil es schlicht nur zum Überleben gereicht hat. Und was wurde ich wütend auf diese Männer, welche - von ihren Müttern so erzogen (und diese unendliche Wut auf diese Mütter) - nur fordern, nur verlangen, nur Raum einnehmen, nur laut sind, stark, gewalttätig. Die es gewagt haben, unsere Gesellschaft nach ihren Rahmenbedingungen zu formen.
Lola:
Ich denke, dass wir alle uns in unterschiedlichen Figuren in diesem Buch wiedererkennen und ich selbst habe mich Helenes Tochter Lola so unendlich verbunden gefühlt. Habe mich gefragt, wann Sarah sich für ihre "Dienste" endlich bezahlen lässt, endlich einmal aufbegehrt, für sich einsteht, reinen Tisch macht. Habe mich - einmal mehr - gefragt, weshalb Frauen Kinder haben mit Männern, die schon als Partner nichts taugen, nur eine Last sind, zusätzliche Arbeit machen. Und die sich dann irgendwann zwischen vollen Windeln und dem unerledigten Abwasch fragen, wo sie eigentlich falsch abgebogen sind.
Und wisst ihr, was meine Wut noch grösser gemacht hat?
Lola begehrt auf. Sie gewinnt die Kontrolle zurück über ihren Körper, sie nimmt ab, mehr und mehr. Ungesund viel, verletzt sich selber, leidet und entscheidet sich dann, zurückzuschlagen und wieder zuzunehmen und schliesslich auf die Ansprüche an den weiblichen Körper, die Rollenbilder und die Bewertungen zu scheissen. Und dies alles zeigt doch um so deutlicher, wie sehr wir alle in diesem Patriarchat unterdrückt sind, weil es eben genau dann, wenn wir entscheiden, sämtliche Bewertungen, alle diese Verletzungen und Einschränkungen nicht mehr zu akzeptieren, eben doch wieder um genau diese Einschränkungen geht und um die Menschen, welche dafür verantwortlich sind. Lola nimmt also nicht zu, weil sie selber einfach wieder so richtig Lust auf geile Gerichte hat, sie nimmt zu, um der Gesellschaft zu zeigen, dass es in Ordnung ist, zuzunehmen. Sie trainiert nicht, weil sie Freude am Sport gewonnen hat, sondern um ihre Wut und Angst zu kanalisieren und im Notfall zurückschlagen zu können.
Und so sind alle Frauenfiguren in diesem Buch durch eine gemeinsame traurige Wahrheit verbunden. Es ist die selbe traurige Wahrheit, welche uns alle vereint: wir werden oft erst aktiv und laut und wütend, wenn uns bereits etwas angetan worden ist, das unsere Welt erschüttert, unsere Grenzen, Körper und Seelen verletzt hat.
Der Humor:
Überrascht hat mich, wie humorvoll dieses Buch neben aller Ernsthaftigkeit ist. Es ist ein schwarzer aber mitten aus dem Leben gegriffener Humor. Ein Humor, der schallend lachen lässt und dann ein wenig Bitterkeit hinterlässt.
Vor allem diese eine Szene hat mich bestens unterhalten: Sarah betritt Helenes Wohnung und trifft eine laute Diskussion an, ein Kind, das ihr entgegenrennt und dabei einmal der Länge nach hinfällt und ein zweites Kind, das in der auf den Sturz folgenden Stille mitten ins Wohnzimmer kotzt, unmittelbar, bevor der Vater das Haus verlässt, um arbeiten zu gehen. Was habe ich gelacht, kannte ich doch genau solche und ähnliche Szenen von meiner jahrelangen Arbeit als Nanny. Der Unterschied zu einer Mutter oder einer besten Freundin genau dieser kürzlich vom Balkon in den Tod gesprungenen Mutter? Ich bin für meine Arbeit bezahlt worden, wenn auch nicht immer angemessen... (und jetzt seht ihr, wie die Bitterkeit ins Spiel kommt).
Die Sprache:
Ja, die Männerfiguren in diesem Buch sind und bleiben eher blass, unbeholfen und so gar nicht empathisch, ja, die (erwachsenen) Frauen im Roman sind ein wenig gar selber verantwortlich für die scheinbar ausweglose Situation, in die sie sich in ihrer Beziehung manövriert haben, aber dies spielt eine untergeordnete Rolle, vielmehr werden nämlich Lola und ihre Freundinnen ins Zentrum gestellt. Junge Frauen, welche sich nichts vorschreiben lassen wollen, welche zurückschlagen, sich wehren, ihre weiblichen Vorbilder hinterfragen und am Ende zusammenstehen. Und sich - auch wenn sie rational gesehen einen falschen Weg wählen, um ihre Wut auszudrücken - unterstützen anfeuern und damit sich selber und der älteren Generation Steine aus dem Weg räumen. Wortgewaltig reisst Fallwickl Fassaden ein, um Missstände aufzuzeigen und baut Brücken, um Frauen einander die Hand reichen zu lassen.
Wie Sarah immer noch mit ihrer besten Freundin Helene spricht, sich an gemeinsame Erlebnisse erinnert und Kraft aus diesen "Unterhaltungen" zieht, hat mich tief berührt. Die Lücke, welche Helene in Sarahs und Lolas Leben hinterlassen hat, ist permanent spürbar. Dieser Verlust, diese Liebe und dieser Schmerz sowie der Umgang und auch das Hadern mit diesem Verlust sind äusserst realistisch und bewegend beschrieben und in diesen Szenen wird fast schon zart erzählt, während andere Szenen brutal sind, roh, ungezähmt und messerscharf.
Meine Empfehlung:
Lest dieses Buch, sprecht darüber, sprecht über euch und eure Belastungen, sprecht über Ängste, Sorgen, Bedürfnisse, über angemessene Bezahlung und Freizeit und hört endlich auf, alle Probleme dieser Welt alleine lösen zu wollen, weil ihr anderen nicht zugestehen wollt, ihren Teil beitragen zu müssen. Aber noch einmal und vor allem: lest dieses Buch.