Fulminant
Winter 2019. Riccardo Giordano hat mit seinem Leben abgeschlossen. Er ist ein heruntergekommener Mittdreißiger. Seinen Sohn Niccolò, angehender Jurist, wie er selbst einmal, sieht er nur vier Mal im Jahr. ...
Winter 2019. Riccardo Giordano hat mit seinem Leben abgeschlossen. Er ist ein heruntergekommener Mittdreißiger. Seinen Sohn Niccolò, angehender Jurist, wie er selbst einmal, sieht er nur vier Mal im Jahr. Jetzt sitzt er betrunken am Strand von Camporontondo und sieht die Dämonen von damals und auch wenn er es nicht fühlt, weiß er, dass er es nicht wert ist weiterzuleben.
Camporontondo 2000. Teresa Vasta sitzt mit ihren Eltern im Auto, auf dem Weg zum Ferienhaus. Mutters Atem stinkt nach Cynar und Merit, als sie Teresa anbrüllt, sie solle das scheußliche Schlampenzeug ausmachen, drei Ave-Maria und ein Vaterunser beten. Teresa nimmt die Kopfhörer runter, Britney, Avril und Cher verstummen.
Obwohl Teresa ihrer Mutter beim Auspacken helfen sollte, macht sie das Gleiche wie jedes Jahr nach ihrer Ankunft. Sie läuft runter zum Meer, setzt sich in den Sand und schaut der Sonne dabei zu, wie sie ihre Haut streichelt. Einige Meter entfernt beobachtet sie drei Jungs beim Ballspiel, bewundert ihre athletischen Körper in den knielangen Badehosen. Einer findet ihren Blick, fixiert ihn, lächelt, ohne Beteiligung der Augen und erzeugt in Teresa ein mulmiges Gefühl.
Paloma Winter 2019. Niccolò ist ein durchtrainierter achtzehn jähriger, führt seine Freunde charismatisch, nennt sie Gefährten und zieht nächtelang Lines. Zwischendurch schleppt er Frauen ab, die ihm einen guten Job machen oder zumindest ihre Pflichten an ihm erfüllen. Er ist ein Gott, studiert mehr schlecht als recht, drückt aber jeden Morgen Gewichte. Seine Mutter Teresa hasst er die meiste Zeit wegen ihrer Gottbesessenheit und ihrer Nörgelei, er sei wie sein Vater. Sein Stiefvater Fabrizio ist Chirurg, er schenkt Niccolò das Nötigste, Motorrad zum sechzehnten, Porsche zum Achtzehnten.
Fazit: Ich habe selten eine so gut aufgebaute Geschichte gelesen. Mattia Insolia führt absolut gelungene Charaktere ein. Die Mutter der Protagonistin ist voller Selbsthass, die Wut, die sie an ihrer Tochter auslässt, gleicht einem Personenzug, der das Bremsen vergisst, als er in den Bahnhof einfährt. Der Vater ist machtlos und voller Schuldgefühle. Er kann seiner Tochter nicht beistehen, versinkt in Depression. Der Protagonist ist selbstgefällig, fremd – und selbstzerstörerisch, sein Frauenhass erschreckt. Ein Bilderbuchnarzisst, frei von jeder Empathiefähigkeit. Ich habe den moralischen Finger gehoben und gleich wieder heruntergenommen, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die zutiefst krank in ihrer Seele sind. Selten hat mich ein Autor in eine Welt gezerrt, die ich ihm so glaube. Er hat Niccolò durch die harte Schule des Lebens getreten. Die Klangfarbe Mattia Insolias gleicht einer Arie von Puccini. Die Geschichte ist temporeich und entwickelt einen Sog, dem ich mich, trotz aller heftiger Ereignisse, die in ihrem Schrecken nicht vorauszusehen sind, unmöglich entziehen konnte. Das Buch habe ich in kurzer Zeit gelesen, mir mit mehreren Ach du meine … Das kann doch nicht … Was … Um … Luft verschafft. Rasant! Fulminant! Erschütternd! Ganz große Kunst!