Das Mädchen im Widerstand
Liebe Daffy,
mein heutiger Brief ist etwas ernsthafter. Ich möchte dir von einem Buch erzählen, das nicht nur eine absolute Empfehlung ist, sondern auch sehr zum Nachdenken anregt und ich nicht weiß, ob ...
Liebe Daffy,
mein heutiger Brief ist etwas ernsthafter. Ich möchte dir von einem Buch erzählen, das nicht nur eine absolute Empfehlung ist, sondern auch sehr zum Nachdenken anregt und ich nicht weiß, ob ich der Geschichte mit meiner Rezension gerecht werden kann. Als ich im Buchladen durch Zufall auf Monica Hesses „Das Mädchen im blauen Mantel“ stieß, wusste ich sofort, dieses Buch muss ich lesen. Das englische Original erschien 2016 unter dem Titel „The Girl in the Blue Coat“. Ich habe die deutsche Übersetzung von Cornelia Stoll gelesen, die 2018 bei cbt verlegt wurde.
Inhalt
Januar 1943: Der Schauplatz ist das besetzte Amsterdam. Hanneke, eine niederländische junge Frau leistet Widerstand, indem sie Schwarzmarktgüter beschafft. Doch eine der Kundinnen hat einen ganz besonderen Auftrag für sie. Sie soll ein jüdisches Mädchen wiederfinden, das verschwunden ist. Die Informationen sind spärlich, die Gefahrenlage groß.
Ein wichtiger Beitrag in unserer Literaturlandschaft
Der Inhalt klingt packend und das ist er auch. Ich möchte dir gar nicht viel vorweg nehmen, weil die Geschichte die Gelegenheit braucht, sich jeder und jedem selbst zu entfalten. Das Nachwort der Autorin hat mich noch einmal so sehr beschäftigt, dass ich tagelang über dieses Buch nachdenken und mit anderen darüber sprechen musste. Auf der Grundlage von wahren Begebenheiten hat Monica Hesse eine fiktive Geschichte geschaffen, die einem vor Augen führt, was wirklich passiert sein könnte.
Mein Wissensstand rund um die Schrecken des zweiten Weltkrieges ist recht umfassend. Ich habe das große Glück, dass mir meine Großeltern Einblicke verschaffen konnten und erzählt haben. Aber auch in der Schule, der Uni und aus privatem Interesse habe ich mich mit der Zeit befasst und empfand dieses Buch als große Bereicherung.
Monica Hesse erwähnt zu Beginn des Buches häufiger die Westerkerk. Wir wissen, dass sich die Familie Frank mit den anderen Untergetauchten direkt neben dieser Kirche versteckt hatte. Ich habe nicht nur Annes Tagebuch gelesen, ich habe mich viel mit ihrer Familie befasst und war selbst in Amsterdam und habe die Kirche, das Anne-Frank-Haus, aber auch die Stadt als solches kennen lernen dürfen. Warum erwähne ich das in meiner Rezension? Dieses Wissen hat mir eine Grundlage gegeben, die mich in die Geschichte gezogen hat und mich direkt hat neben Hanneke gehen lassen.
Die beklemmende Stimmung, die geherrscht haben muss, wird auf jeder Seite spürbar. Hätte ich es gekonnte, hätte ich gern regelmäßig über meine Schulter geschaut, um zu kontrollieren, ob man uns verfolgt. Doch ich saß sicher und geborgen auf meinem Sofa, Hanneke war es, die sich in Gefahr begeben hat. Sie steht sinnbildlich für viele, viele Menschen, die mutig gegen das Naziregime gekämpft haben – offen oder im Verborgenen.
Obwohl Hanneke eine der mutigsten Frauenfiguren ist, die ich lange in einem Buch begleiten durfte, leidet sie. Sie leidet an der großen Schuldfrage. Wahrscheinlich eins der Wörter, die aus dieser Zeit bleiben werden: Schuld.
Diese junge Frau kämpft, ist stark und mutig und doch hat sie ihre eigene Bürde. Jede und jeder von uns tut Dinge, die man hinterher bereut und nie wieder ändern kann. Müssen wir uns deswegen schuldig fühlen? Müssen wir Gutes tun und uns opfern, um diese Schuld zu begleichen? Hanneke ist nicht die Einzige, die sich mit dieser Frage quält. Jede Figur in diesem Buch hat ihre eigene Last auf den Schultern, eine Schuld, die sie begleichen wollen.
Ich habe das Buch aufgeschlagen und war gespannt, was Monice Hesse für eine Geschichte geschrieben hat. Ich habe das Buch beendet und wieder zugeschlagen und war eine Andere. Die Gefühle, die ausgelöst wurden, bleiben. Meine Gedanken sind noch nicht zur Ruhe gekommen. Ich weiß nicht, ob sie es werden. Auch, wenn es eine fiktive Geschichte ist, fühlt es sich nicht fiktiv an. Weil ich weiß, dass es so oder so ähnlich passiert ist. Und das darf es nicht: Nie wieder!
Deine Daisy