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Veröffentlicht am 20.11.2020

Vom Durchhalten und Aufstehen...

Writers & Lovers
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„Writers and Lovers“ ist ein Roman über eine junge Frau, die ihre Mutter verloren hat, in einem Gartenschuppen wohnt, auf einem Schuldenberg sitzt, seit sechs Jahren an ihrem ersten Roman schreibt und ...

„Writers and Lovers“ ist ein Roman über eine junge Frau, die ihre Mutter verloren hat, in einem Gartenschuppen wohnt, auf einem Schuldenberg sitzt, seit sechs Jahren an ihrem ersten Roman schreibt und von ihrem Freund verlassen wurde.

Das klingt deprimierend und vielleicht sogar abgedroschen und reizt erstmal nicht sonderlich zum Lesen.
Aber dank Elke Heidenreich, die das Buch empfohlen hat, habe ich dazu gegriffen und ich bin sehr froh darüber, weil es mir höchst vergnügliche Lesestunden bereitete.

Der Roman mit dem fröhlich-bunten Cover spielt 1997 in Massachusetts und erzählt vom ersten Satz an spritzig, lebendig und sarkastisch vom Leben der 31-jährigen Ich-Erzählerin Casey, die sich nach dem morgendlichen Erwachen erstmal strikt und konsequent sämtliche Gedanken verbieten muss:
Gedanken an Geld, ihre Schulden, Sex, Luke, ihren Exfreund, und ihre verstorbene Mutter.

Anschließend führt sie den Hund ihres selbstverliebten Vermieters Adam Gassi, um Mietnachlass zu erhalten und wenn das erledigt ist, versucht sie, meist erfolglos, an ihrem Roman weiterzuschreiben, bevor sie sich mit ihrem Bonanzarad vom Sperrmüll Richtung „Iris“ aufmacht, dem Restaurant, in dem sie jobbt, um ihr finanzielles Desaster in den Griff zu bekommen.

Auf dieser Radfahrt durchs sommerliche Boston empfindet die seit einiger Zeit melancholisch-deprimierte Casey ein paar Glücksmomente.
Sie würde gerne ihrer Mutter davon erzählen, aber das geht nicht, denn sie ist kürzlich völlig unerwartet mit erst 58 Jahren verstorben.

Casey nimmt beim Erzählen kein Blatt vor den Mund und bringt uns ihre Geschichte leichtfüßig, dynamisch und unsentimental näher.
Über allem schwebt ganz subtil eine Wolke aus Bedrückung, Ernsthaftigkeit und Schwermut, was angesichts Caseys Sorgen gut nachvollziehbar ist.

Sie trauert um ihre Mutter, sie vermisst Luke, den sie als Stipendiatin in einer Art Schreibwerkstatt kennen- und lieben gelernt hat, sie weiß nicht, wie sie ihr Konto ausgleichen soll und sie befürchtet, ihren Traum vom Schreiben aufgeben zu müssen.

Wir erfahren im Verlauf, dass Caseys Mutter wegen eines anderen Mannes die Familie verlassen hat, als Casey ca. 16 Jahre alt war.
Danach lebte das Mädchen bei ihrem Vater und seiner neuen Partnerin und als ihre Mutter nach eineinhalb Jahren wieder in die Stadt zurückkam, zog Casey zu ihr.
In der Zeit, in der ihre Mutter weg war und sie sie so sehr vermisst hat, begann Casey zu schreiben.
In diesen eineinhalb Jahren entdeckte sie aber auch eine erschütternde Seite an ihrem Vater.

Es scheint, dass Casey nach der Highschool und dem Studium recht rast- und haltlos durchs Leben getingelt ist.
Sie hat an vielen Orten gelebt, z. B. zwei Jahre bei Paco in Barcelona und ist diversen Jobs nachgegangen, z. B. in einer Fremdsprachenbuchhandlung.

Mit ihrer Mutter pflegte sie in all der Zeit der Unruhe einen guten und freundschaftlichen Kontakt.
Meist per Telefon, seltener durch Besuche...bis sie im letzten Winter nicht aus ihrem Urlaub in Chile zurückgekehrt ist.

Inzwischen lebt Casey wieder in ihrer Heimat Boston, wo sie mutterseelenallein einen kleinen und müffelnden Gartenschuppen bewohnt und sich im Restaurant „Iris“ abrackert, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen.

Nach dem Ende mit Luke tauchen zwei neue Männer auf, zwischen denen sich Casey entscheiden sollte: der um 14 Jahre ältere Witwer und Schriftsteller Oskar und der gleichaltrige Lehrer Silas, der auch Schriftsteller werden möchte.

Beide Männer lernt sie an ein und demselben Abend kennen, als Oskar, ein ehemaliger Dozent an der Boston University, sein Buch präsentiert.

Die Entscheidung zwischen diesen beiden Männern fällt Casey nicht leicht. Jeder reizt sie auf seine Weise.
Ob da wohl die Weisheit einer Kollegin weiterhilft, die der Überzeugung ist: „Wenn du genug Zeit auf der Rennbahn verbringst, dann erkennst du dein Pferd. Du erkennst es einfach.“ (S. 188)

Caseys Leben klingt nicht gerade prickelnd. Es klingt und ist sogar ziemlich trostlos.

Die Geschichte zu lesen, ist aber überhaupt nicht trostlos oder deprimierend.
Schon die Einblicke, die man in die Welt der Küche und Kellner bekommt sind äußerst interessant und amüsant.
Es macht viel Spaß, Casey in ihrem Alltag zu begleiten und auch ihre Freunde kennenzulernen.

Wortgewandt und mit viel Witz erzählt uns Lily King diese Geschichte, die wohl von ihrem eigenen Erleben inspiriert ist.
Sie beschreibt Personen, Szenen und Handlungsorte derart bildhaft und plastisch, dass sie vor dem geistigen Auge zum Leben erwachen.

Ich empfand den Roman, der zu keinem Zeitpunkt kitschig oder schnulzig, aber durchgehend unterhaltsam und zeitweise höchst interessant und auch informativ ist, als Ermunterung dazu, die Hoffnung nicht aufzugeben, seine Träume nicht zu begraben und die Angst vor deren Verwirklichung und der damit einhergehenden Verunsicherung vor Veränderung zu überwinden.

Manch‘ interessante und lebenskluge Gedanken und schöne Formulierungen ließen mich innehalten:
„Gespräche in fremden Sprachen prägen sich mir nicht auf die gleiche Art ein wie Gespräche auf Englisch. Sie bleiben nicht haften. Sie sind wie der Stift mit der unsichtbaren Tinte, den meine Mutter mir zu Weihnachten schickte als ich 15 war und sie fort, eine Ironie die ihr entging, aber nicht mir.“ (S. 20)

„Mit jemandem die Liebe zu einem Buch zu teilen, stiftet eine ganz eigene, beglückende Art der Verbundenheit.“ (S. 57)

„Wie so viele Eltern wollte mein Vater mir die Möglichkeit verschaffen, die er selbst nicht gehabt hatte, damit ich das erreichen konnte, was er selbst nie erreicht hatte.“ (S. 119)

„Wie viel Kraft es gekostet hat, etwas in sich zu vergraben, merkt man erst, wenn man es wieder ans Licht holen will.“ (S. 168)

Ich staunte mehrmals fasziniert, wie scheinbar mühelos es der Autorin gelang, mich emotional auf Fährten zu locken, um mich kurz danach wieder mit unvorhergesehenen, aber völlig plausiblen und stimmigen Wendungen zu verblüffen.

Der Roman zieht den Leser mitten ins Leben hinein.
Ins Leben der sympathischen, liebenswerten und etwas chaotischen Casey, die ihren Platz sucht und immer wieder aufsteht, wenn sie hingefallen ist.

Lily King gelang es auf wunderbare Weise, mir ihre Protagonistin so nahe zu bringen, dass ich zeitweise nicht nur das Gefühl hatte, sie zu beobachten oder zu begleiten, sondern in sie hineinzuschlüpfen. Ich spürte Caseys Angst aufgrund eines Krankheitsverdachts, ihre Zukunftsängste, ihre Versagensängste und ihre Hektik beim Bedienen der unzähligen Gäste, die ihre Wünsche nicht schnell genug erfüllt sahen.
Ich spürte ihre Aufregung vor einem Rendezvous, das Kribbeln in ihrem Bauch bei einem Kuss und die Leichtigkeit und Gelassenheit im Umgang mit den beiden kleinen Söhnen von Oskar.
Caseys Sorgen, Nöte, Wünsche und Träume nachzuvollziehen war ein Leichtes.

Ich empfehle diesen äußerst kurzweiligen und unterhaltsamen Roman, der durchaus auch höhere literarische Ansprüche befriedigt und keineswegs nur für die Hängematte geeignet ist, sehr gerne weiter.

Aufgrund meiner Begeisterung und Neugierde möchte ich bald ihren hochgelobten Roman „Euphoria“ in Angriff nehmen, der schon in meinem Regal steht und „Lies mich!“ ruft.






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Veröffentlicht am 20.11.2020

Mutig, leichtsinnig, zerrissen...

Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt
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Wir lernen in dem ca. 220-seitigen Werk Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes kennen, einen mutigen Menschenfreund und Katholiken, der sich Regeln, Anweisungen und Verboten der portugiesischen Regierung ...

Wir lernen in dem ca. 220-seitigen Werk Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes kennen, einen mutigen Menschenfreund und Katholiken, der sich Regeln, Anweisungen und Verboten der portugiesischen Regierung widersetzt, um Tausenden von Menschen zu helfen.

Diese Hilfe gewährt der aus einer Adelsfamilie stammende verheiratete, kinderreiche, wohlhabende und empathische Mann, indem er zu Beginn des zweiten Weltkrieges trotz oder entgegen der vom Diktator Salazar ausgesprochenen drastisch verschärften Einreisebedingungen vielen überwiegend jüdischen Flüchtlingen und politisch Verfolgten Visa erteilt, damit sie nach Portugal einreisen können.

Doch sein Handeln hat Konsequenzen.
Aristides de Sousa Mendes verliert seine Ämter und muss in einem Disziplinarverfahren Rede und Antwort stehen.
Von da an geht es in allen Beteichen seines Lebens rapide abwärts.

1954 verstarb er.
Rehabilitiert wurde er erst posthum.

Psychologisch nachvollziehbar und stimmig zeichnet Dagmar Fohl die Seelenzustände ihres Protagonisten mit all seinen inneren Konflikten und Beweggründen, wobei es bezüglich seiner inneren Zerrissenheit nicht nur um sein politisches Engagement, sondern auch um private Angelegenheiten ging.

Auffällig und bedeutungsvoll war für mich, dass der Konsul, was die Flüchtlinge betraf, extrem engagiert und verantwortungsbewusst handelte, dass er gleichzeitig aber, was ihn selbst und seine Familie anging, fast schon leichtsinnig, fahrlässig und arglos agierte. Warum hat er potentielle Folgen und Gefahren für sich und seine Familie, Ehefrau und 14 gemeinsame Kinder, ausgeblendet und verleugnet?

Dass die Autorin Geschichte studiert und gründlich recherchiert hat, ist unschwer zu erkennen, denn sie beleuchtet und vermittelt die gesellschaftlichen Verhältnisse, Nöte und Probleme der damaligen Zeit realistisch und glaubhaft.
Ihr recht faktischer, nüchterner, etwas sperriger und steif-hölzerner Schreibstil trägt dazu bei, die bedrohliche und karge Atmosphäre der damaligen Zeit zu vermitteln.

Die lebendig, dynamisch, rasant und eindringlich geschriebene Romanbiographie über den mir bis dahin nicht bekannten, weltoffenen, weitgereisten, beeindruckenden und außergewöhnlichen Generalkonsul Aristides de Sousa Mendes ist ein äußerst interessantes und lesenswertes Werk!

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Veröffentlicht am 18.11.2020

Aktuell und fesselnd!

Die Stadt am Ende der Welt
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Gerade ist der erste Weltkrieg zu Ende und schon steht die zweite Gefahr vor der Tür: die spanische Grippe.
Indem sie die Holzfällerstadt Commonwealth rigoros abriegeln, wollen sich die Einwohner vor dem ...

Gerade ist der erste Weltkrieg zu Ende und schon steht die zweite Gefahr vor der Tür: die spanische Grippe.
Indem sie die Holzfällerstadt Commonwealth rigoros abriegeln, wollen sich die Einwohner vor dem Virus schützen.
Nach einer demokratischen Abstimmung entscheiden sie sich für komplette Abschottung.
Totale Isolation.
Keiner darf raus, keiner darf rein.
Grenzposten, Warnschilder und bewaffnete Wachen sollen dafür sorgen, dass im Ort eine strenge Quarantäne eingehalten eingehalten werden kann.
Denn nur so meinen die Bewohner, sich schützen und überleben zu können.

Charles Worthy, Sohn einer wohlhabenden Unternehmerfamilie und Inhaber eines Sägewerks, hat das Städtchen im Nordwesten der USA mit viel Engagement und Mut gegründet und sich damit einen Lebenstraum erfüllt.
Dieser Lebenstraum beinhaltete aber nicht nur die bloße Gründung einer Stadt, sondern die Gründung einer Stadt, in der seine sozialen Ideale gelebt werden: Menschlichkeit, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung.
Diese Werte sind nun massiv in Gefahr!

Philip Worthy ist der 16-jährige Adoptivsohn von Charles und beobachtet, wie fremde Soldaten um Asyl bitten.
Er ist zutiefst erschüttert und schockiert, als er mitansehen muss, wie der von ihm bewunderte Mittzwanziger Graham, ein befreundeter Holzfäller und junger Familienvater, einen ausgemergelten und halb verhungerten Soldaten erschießt, der sich unerlaubt Zutritt verschaffen möchte.
Sein Weltbild gerät ins Wanken.

Kurze Zeit später kommt er selbst in die Verlegenheit, jemandem den Zutritt zu verwehren, aber er entscheidet anders.
Er handelt anders.
Das hat Konsequenzen.

Jetzt gibt es nicht mehr nur die Angst vor dem Feind, der von draußen kommt, sondern auch noch die Angst vor der Bedrohung aus den eigenen Reihen.

Darüber hinaus lernen wir weitere Bewohner von Commonwealth kennen.
Zum Beispiel Rebecca, die sich für Frauenrechte und gegen den Krieg einsetzt oder Dr. Banes, der um die Virulenz des Virus weiß, es bekämpfen will, aber bereits daran scheitert, Infektionsketten zurückzuverfolgen und Infektionsquellen zu orten.

Der Autor erzählt spannend und glaubhaft von der Veränderung der gesamten Gesellschaft, der einzelnen Menschen und ihren Beziehungen in Extremsituationen und davon, wie ganz basale Werte in Krisen ins Wanken geraten.
Der Aggressionspegel steigt, Misstrauen, Angst und Hysterie kehren ein, Schuldzuweisungen werden gemacht, Mitgefühl schwindet, Hilfsbereitschaft sinkt und Zusammenhalt bröckelt.

Trotz der düsteren, bedrückenden und unheimlichen Atmosphäre, die spürbar und eindrücklich vermittelt wird, ist „Die Stadt am Ende der Welt“ kein zutiefst pessimistisches und deprimierendes Buch. Hoffnung und Optimismus schimmern durch und tragen dazu bei, dass man sich seine eigenen Gedanken macht.
Der Roman hallt nach!

Es geht um ethische Fragen und basale Themen der Menschheit wie Solidarität, Emphathie, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Hoffnung.

Der 1974 geborene Thomas Mullen hat mit „Die Stadt am Ende der Welt“ einen fesselnden, intensiven und dichten Pageturner geschrieben, der ein historisches Ereignis in Fiktion einbettet und der gerade in Zeiten der Corona-Krise höchste Aktualität und Brisanz besitzt und erschreckende Parallelen zu Tage fördert.

Er erschien übrigens bereits 2007 in Deutschland und wurde aus aktuellem Anlass heraus neu aufgelegt.

„Die Stadt am Ende der Welt“ ist ein gelungener und lesenswerter Debutroman, der geschickt und originell konstruiert ist und für den der Autor meiner Einschätzung nach gründlich recherchiert hat!

Manches war mir leider zu langatmig und etwas zu belanglos; Thomas Mullen hätte an manchen Stellen kürzen können.
Aber das ist Jammern auf recht hohem Niveau.

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Veröffentlicht am 16.11.2020

Glück im Unglück...

Tausend Monde
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Mit Beginn der Lektüre begeben wir uns in die 1870-er Jahre nach Tennessee, einem Bundesstaat im Süden der USA.

Der amerikanische Bürgerkrieg ist schon seit einigen Jahren vorbei, aber die Nachwehen ...

Mit Beginn der Lektüre begeben wir uns in die 1870-er Jahre nach Tennessee, einem Bundesstaat im Süden der USA.

Der amerikanische Bürgerkrieg ist schon seit einigen Jahren vorbei, aber die Nachwehen sind noch zu spüren.
Die Konföderierten haben den Krieg zwar verloren, doch Plünderer, Vagabunden, düstere Gestalten, raue Unionssoldaten und besiegte Grauröcke lungern herum und rebellieren gegen die neuen Verhältnisse in den Südstaaten, mit denen sie sich nicht anfreunden wollen. „Die geschlagenen Rebellen standen auf, standen überall wieder auf.“ (S. 36)

Soviel zum Setting.
Und jetzt zum Inhalt:

Die Indianerin Winona erzählt uns rückblickend ihre Geschichte.
Ihre Familie, Angehörige des Stammes der Lakota, wurde getötet, als sie ca. sechs Jahre alt war.
Sie selbst wuchs anschließend als Waisenkind bei den homosexuellen Unionssoldaten Thomas McNulty, einem Iren und John Cole, einem Farmer mit indianischen Vorfahren, auf einer Farm in Tennessee auf.

Thomas und John arbeiteten, genauso wie Rosalee, die stämmige schwarze Haushälterin und deren Bruder Tennyson, beide ehemalige Sklaven, auf Lige Magans Farm, die genau so viel abwarf, dass die ungewöhnliche kleine Wohngemeinschaft gerade so über die Runden kam.

Ungewöhnlich?
Ja, denn diese sechs Menschen, Thomas, John, Rosalee, Tennyson, Winona und der Farmbetreiber Lige, waren eine zusammengewürfelte Randgruppe, die der erzkonservativen Bevölkerung von Tennessee ein Dorn im Auge war:
Zwei Homosexuelle, einer davon mit indianischen Wurzeln, eine Indianerin, zwei Ex-Sklaven und ein Farmer, der diese Leute bei sich arbeiten und wohnen ließ.
Ungewöhnlich aber auch, weil diese Menschen ein bewunderns- und nachahmenswertes Vorbild für Solidarität, Loyalität, Freundschaft, Liebe und Toleranz darstellten.

Winona lernte Englisch, um im nahegelegenen Städtchen Paris, Tennessee nicht verprügelt zu werden, denn „eine Indianerin zu schlagen war kein Verbrechen, ganz und gar nicht.“ (S. 11).
Natürlich war das nicht der einzige Grund, weshalb das Mädchen diese Sprache erlernte
Aber es war tatsächlich so, dass die englische Sprache in gewisser Weise ein Schutzschild war.
Die Diskriminierung der Indianer und die latente Gefahr, der sie ausgesetzt waren, war eine unumstößliche Tatsache und auch Ex-Sklaven hatten keine Rechte und fielen Ungerechtigkeiten, Willkür und Abwertungen zum Opfer.

Winona trägt eine Zerrissenheit in sich, die sie intuitiv gelöst hat.
Es geht dabei um die Vereinbarkeit der Liebe zu ihrer getöteten Ursprungsfamilie und zu ihren fürsorglichen Ziehvätern, die als Soldaten möglicherweise an deren Ermordung beteiligt waren.

Das Mädchen erinnerte sich oft an ihre liebevolle und mutige Mutter, die an den Winterabenden im Tipi Geschichten erzählte und an ihre Schwester, mit der sie draußen in der Prärie unter dem Sternenzelt spielte bevor das Unglück, geschah.
„Die erwachsenen Frauen hielten das Lager in Ordnung, die Männer jagten und kämpften und unsere kleine Aufgabe als Kinder war es, herumzuspringen und glücklich zu sein.“ (S. 36) ...und dann kamen Krieg, Gemetzel und Tod.

Gleichzeitig fühlte sie sich zärtlich verbunden mit ihren zuverlässigen und auf ihre Art liebevollen „Adoptivvätern“ Thomas und John, die ihr Halt gaben und Orientierung boten.
„John, der Kiel meines Bootes, Thomas die Ruder und die Segel.“ (S. 201)

Dieses daraus resultierende innere Dilemma, das sie, wie gesagt, gut gelöst hat, beschreibt Winona eindrücklich:
„Sie haben mir die Wunde zugefügt und sie geheilt, was eine unumstößliche Tatsache ist.“ (S. 13)

Winona lernte nicht nur Englisch, wie oben erwähnt, sondern auch schreiben und rechnen und als sie alt genug war, bekam sie eine Anstellung beim ca. 60-jährigen freundlichen und gerechten Anwalt Briscoe, der sein Büro im ca. sieben Kilometer entfernten Paris, Tennessee, hatte und der ihre Begeisterung für Bücher weckte.

Eines Tages lernte die inzwischen ca. 17-jährige Winona den um zwei Jahre älteren Jas Jonski, einen Weißen polnischer Abstammung, kennen. Er war Verkäufer in einem Geschäft für Trockenwaren, in dem sie regelmäßig einkaufte.
Sie verliebten sich ineinander, er wollte sie heiraten, aber John Cole „wurde wütend wie ein Wels. „Kommt nicht in Frage, Madam!“sagte er.“ (S. 18)
Auch Mr. Hicks, der Chef von Jas und seine Mutter, sind alles andere als begeistert davon, dass Jas jemanden heiraten möchte „der einem Affen näher steht als einem Menschen“. (S. 20)

Eines Tages passierte es dann doch.
Trotz der Englischkenntnisse.
„Die Rothaut“ Winona wurde in der Stadt verprügelt und übel zugerichtet.
Thomas und John forderten ausgleichende Gerechtigkeit, „weil das einzige von Wert, was sie besaßen, versehrt worden war.“ (S. 22)
Aber es war ja „ohnehin kein Verbrechen, eine Indianerin zu schlagen“. (S. 22)
Ihre Vermutung bzgl. Täter behielt Winona für sich, damit John Cole nicht auf die Idee kam, sie zu rächen, wofür er gehängt worden wäre.

Winona, von den meisten Stadtbewohnern als Wilde betrachtet, die einer Wölfin ähnlicher ist, als eine Frau, beschloß, „die Sache selber in die Hand zu nehmen.“ (S. 25)
...und dann wurde auch noch Tennyson, der ehemalige Sklave, brutal zusammengeschlagen...

Es ist schmerzhaft und fast unerträglich, zu lesen, dass Winona, die von ihren „Adoptivvätern“ aufrichtig geliebt und fast wie eine Prinzessin betrachtet und behandelt wurde, so viel Abwertung und Missgunst von vielen Anderen ausgesetzt war.

„Ich war geringer als die Geringsten unter ihnen. Ich war geringer als die Huren im Hurenhaus...Ich war geringer als die schwarzen Fliegen, die einen im Sommer verfolgten. Geringer als die alte Scheiße, die hinter die Häuser geschüttet wurde.“(S. 26)

Erschüttert und sprachlos liest man Sätze wie „Eine Indianerin ist keine Bürgerin, und das Gesetz findet nicht in gleicher Weise Anwendung.“ (S. 49) und Aussagen wie „Es war kein Verbrechen, einen Indianer zu töten, weil ein Indianer nichts besonderes war.“ (S. 57), jagen einem einen kalten Schauer über den Rücken.

Die traumatisierte jugendliche Ich-Erzählerin Winona beschreibt die raue Welt, in der sie aufgewachsen ist und lebt, mal poetisch zart, mal hart und direkt.
Bisweilen spricht Sie ihre Leserschaft direkt an und bezieht sie mit ein.
Sie erzählt nüchtern, leichtfüßig, ungeschönt und ohne jegliche Sentimentalität.
Nur so ist es ihr, wie nach traumatischen Erlebnissen üblich, überhaupt möglich, über ihre erschütternde und traurige Geschichte zu sprechen.
Die gefühlskarge Darstellung verstärkt dabei die emotionale Reaktion im Leser.

Der Autor schreibt seinen Roman in einer wunderschönen bildgewaltigen Sprache mit wortgewandten Formulierungen und anschaulichen Metaphern, die immer wieder zum Innehalten und nochmaligen Lesen Anlass geben.

Einige Beispiele möchte ich gern zitieren:
„In seinem Haus war ein Büro, das ganz mit schimmerndem Holz ausgelegt war, so dass man meinen konnte, es stehe Wasser auf dem Boden, so sehr schien er zu schwappen und zu zittern.“ (S. 27)

„Wenn Hochwasser eine Farm überschwemmt, stürzen zahlreiche Bäume um, und die Pflanzen, sofern sie bereits hoch stehen, werden niedergedrückt.
Die ärgste Überschwemmung wird noch das letzte Feld verheeren; es muss von neuem gepflügt und von neuem geegt werden, und vielleicht ist es schon zu spät um in dem betreffenden Jahr noch eine weitere Aussaat vorzunehmen.
Hat man nach der Überschwemmung erst einmal seine Kleidung getrocknet, merkt man womöglich, dass man im kommenden Jahr nicht so viel zu essen haben wird wie in diesem. Aber es ist klar wie der Tag, dass man der Stärke der Flut, des Tornados oder des heftigen Sturms mit ebenso großer Stärke begegnen muss.
Um aufzubauen, was zerstört wurde, um das, was aus seiner Verankerung gerissen und von seinem Haken getrennt wurde, wieder an seinen Platz zu tun.“ (S. 52)

„Die Traurigkeit eines anderen Menschen kann die eigene ein wenig lindern. Habe ich festgestellt. Doch so seltsam ist das gar nicht, denn die Welt ist ohnehin mysteriös.“ (S. 56)

„Als ich diesen Gedanken zum ersten Mal fasste, kam er mir verrückt und verwegen vor, doch viele solcher Gedanken wirken weniger verrückt und verwegen, wenn man sie öfter denkt.“ (S. 133)

„Er ist so geradlinig wie die Lotschnur eines Maurers.“ (S. 208)

Der 1955 geborene, irischer Autor Sebastian Barry, hat mit „Tausend Monde“ einen abenteuerlichen Roman geschrieben, der an Menschlichkeit, Nächstenliebe und Toleranz appelliert und in dem es auch um grundlegende Fragen, z. B. Vereinbarkeit von Hass und Liebe, Solidarität, Rache, Aushalten von Nichtwissen und Verwirrung sowie Identität geht.
Wer bin ich?
Winona? Ojinjintka?
Indianerin, Schwarze, Weiße?
Mann oder Frau?
Homosexuell oder heterosexuell?

Der Roman ist ein Highlight.
Er sorgte für unterhaltsame, packende, gleichzeitig spannende und entspannende, sowie informative Lesestunden.

Die Lektüre war mich Lesefreude und Lesegenuss pur!

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Veröffentlicht am 14.11.2020

Ein Buch, das spaltet...

Aus der Zuckerfabrik
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Dieses Buch mit Worten zu besprechen fällt mir leicht.
Es mit Sternen zu bewerten fällt mir schwer.
Das hängt damit zusammen, dass die Lektüre mein Analytiker-Herz höher schlagen ließ, mein Freizeit-Leser-Herz ...

Dieses Buch mit Worten zu besprechen fällt mir leicht.
Es mit Sternen zu bewerten fällt mir schwer.
Das hängt damit zusammen, dass die Lektüre mein Analytiker-Herz höher schlagen ließ, mein Freizeit-Leser-Herz jedoch nicht nachhaltig berührte.

Ich denke, dass ich diese Ambivalenz im Folgenden recht gut erklären kann.

Es findet sich verständlicherweise keine Angabe des Genres auf dem Cover, weil eine Einordnung des Werkes tatsächlich nur schwer möglich ist.
Ein Roman ist es nicht.
Es ist am ehesten eine Sammlung von Notizzetteln, eine Art Notizbuch.

Gleich zu Beginn spricht die Autorin von einem Gestrüpp, in dem sie hängen bleibt und nicht heraus kommt.
Eine anschaulichere Metapher hätte sie gar nicht ersinnen können, um mein Empfinden zu beschreiben, das ich vor allem zu Beginn der Lektüre hatte, weil ich nicht vorbereitet war auf das, was mich erwartete:
Ich fühlte mich erst ziemlich verwirrt und irritiert, da jegliche Kohärenz zu fehlen schien. Ich hatte den Eindruck, gleichzeitig an viele Orte, in viele Zeiten und in viele Szenen geworfen zu werden.

Wie der Titel schon erahnen lässt, geht es (unter anderem) um die Zuckerplantagen in Mittelamerika, in der Karibik, auf denen Sklaven gearbeitet haben.
Den Zucker dieser Plantagen hat man in Europa leidenschaftlich gern und mit Hochgenuss verzehrt.

Ausgehend von dieser Zuckerthematik, behandelt die Autorin das Thema Hunger.
Aber nicht nur Hunger im konkreten, sondern auch im abstrakten Sinn: es geht um den körperliche Hunger, aber auch um den seelischen Hunger.
Haben wollen, Ausbeutung, Sehnsucht, Verlangen, Begehren, Begierde, Heißhunger, Gier, Obsession.
Und auch, wie man damit umgeht, wenn der Hunger gestillt wurde.

Das Buch ist wie ein Gedankenstrom.
Ein Tagtraum.
Dorothee Elminger lässt es fließen. Als Psychoanalytikerin habe ich fast den Eindruck, ich sitze hinter der Couch und lausche den freien, ungefilterten und unzensierten Assoziationen einer Patientin.

Sie fokussiert verschiedene Szenen und Bilder, wechselt vom einen zum nächsten und umkreist doch ein Zentrum.
Ein Zentrum, in dem es um Kolonialismus und Kapitalismus geht.
Es ist, als hüpfe sie in einem Bach gemütlich und neugierig von Stein zu Stein.
Sie verweilt auf jedem Stein und lässt von da aus den Blick schweifen.
Mit diesem „hüpfen“ möchte ich die Leichtigkeit ausdrücken, mit der sich dieses Buch lesen lässt, obwohl der Inhalt weder stringent noch linear erzählt wird.
Wenn man sich dem traumartigen Erzählfluss überlässt, gerät man in eine Art Leserausch.
Man liest und liest, man blättert und blättert... hört auf zu denken und zu überlegen... begleitet die Autorin einfach auf ihrer inneren Reise.

Die Steine wirken oberflächlich unverbunden und zusammenhanglos, aber sie haben durchaus etwas Gemeinsames:
den Boden, auf dem sie liegen.
Ich meine damit dieses bereits o. g. Zentrum, um das die Autorin kreist.

Sie mäandert durch ihre Innenwelt und stößt dabei auf eine ganz beachtliche Vielfalt an Gedankenfetzen, Trauminseln oder Puzzlestücken:
Der Ananaskönig und die Sembradores auf einer Ananasfarm auf Haiti.
Ein Schweizer Schnapsbrenner, der in den Tropen ein Großbauer wurde.
Der erste Schweizer Lottomillionär, der am Strand einer karibischen Insel steht.
Der Pariser Vorort Plaisir, das dortige Einkaufszentrum und das lycée.

Verschiedene Autoren und Berühmtheiten wie z. B. Max Frisch, Joseph Roth, Heinrich von Kleist oder Ellen West, die berühmte Patientin des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger werden gestreift, um von dort aus zu den nächsten thematischen Inseln, wie z. B. Geld oder Suizid...zu gelangen.

Das Buch erzählt keine Geschichte und hat keine Handlung.
Es ist eine Zusammenstellung von Schnappschüssen, ein Mosaik aus bedeutsamen Themen in Form von Textauszügen, Zitaten, Stichworten und Tagebucheinträgen.
Es ist eine Komposition aus vielen Einzelstücken, letztlich eine Collage.

Meines Erachtens wurde dieser gleichermaßen poetische wie ungewöhnliche, unstrukturierte und eigenwillige Text, der zweifelsfrei höchste literarische Ansprüche befriedigt, zurecht mehrfach ausgezeichnet.
Es ist ein außergewöhnliches, mutiges und originelles Werk.

Auf den ersten Blick erscheint dieses Sammelsurium an Textsplittern fragmentiert, aber bei näherer Betrachtung hängt es alles andere als im luftleeren Raum.
Im Gegenteil, es hat eine Aufhängung, einen Aufhänger.
Es gibt eine Ordnung im Chaos:
Den Kern, um den es kreist. Kolonialismus, Kapitalismus, die poetische Sprache und der nachdenkliche und leicht melancholische Ton.

Das Buch ist sicherlich nichts für den „gängigen“ Lesegeschmack, falls es so etwas überhaupt gibt.
Es ist nichts für zwischendurch, aber wenn man sich offen und neugierig auf etwas Neues und Spannendes einlassen möchte und die innere Muße dazu hat, ist es ein eigenartiges, exzentrisches und wunderbares Lesevergnügen.

Dieses Werk gehört wohl am ehesten zur aktuellen experimentellen Gegenwartsliteratur, die mir in dieser Form noch nie begegnet, aber äußerst interessant ist.
Wie gesagt, ich kenne so etwas aus meinem Berufsalltag, aber nicht aus Büchern.

Um meinen ersten Satz nun letztlich zu erklären, brauche ich nur noch wenige Worte:
In meiner Freizeit möchte ich in packende und zusammenhängende Geschichten eintauchen, die mich unterhalten und entspannen.

Diesen Anspruch konnte dieses Werk nicht erfüllen.

Deshalb muss ich mich, was die Sternebewertung betrifft, auf einen Kompromiss einlassen, der falsch verstanden werden könnte, wenn man die Argumente und Beweggründe dahinter nicht kennt.

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