Nachdenklich machendes Buch über Heimunterbringung und die Folgen
Vor der NachtDas Buch "Vor der Nacht" von Salih Jamal zeichnet sich durch eine ganz besonders schöne Sprache aus, mit vielen Metaphern, die zum Nachdenken anregen. Das beginnt schon ganz am Anfang und zieht sich durch ...
Das Buch "Vor der Nacht" von Salih Jamal zeichnet sich durch eine ganz besonders schöne Sprache aus, mit vielen Metaphern, die zum Nachdenken anregen. Das beginnt schon ganz am Anfang und zieht sich durch das ganze Buch:
"Da, wo ich bin, kann ich nicht ankommen. Und da, wo ich ankomme, kann ich nicht hin."
"Ich berichte von Leben, die auf Seelen gelegt worden sind, die dem Leben nicht gewachsen waren."
"Nichts war mehr an seinem Ort. Nicht mal ich selbst, als wäre ich aus der Landschaft gefallen."
"Meine Eltern schauten beide zueinander auf. Bis sie gemeinsam in den Abgrund hinabblicken mussten."
Diese eindringlichen Sprachbilder laden also beim Lesen immer wieder dazu ein, innezuhalten und zu reflektieren, das mochte ich sehr.
Inhaltlich ist es ein Buch, das von der Handlung her - insbesondere in der ersten Hälfte - auch ein Jugendbuch sein könnte. Durch die Augen von Jonas (dem im Heim von den anderen Kindern der Spitzname "Jimmy" gegeben wird) lernen wir ihn, einige weitere Kinder und deren Umgebung kennen. Die Kinder können alle aus verschiedensten Gründen nicht mehr daheim wohnen, ihre Eltern sind tot, im Gefängnis oder sonstwo verschollen, und so kommen sie in das Heim der "Wölfin" Vora, die gelegentlich Gewalt ausübt und die Kinder sonst ignoriert. Dort leben sie in Zweibettzimmern, und was den Kindern Halt gibt, ist die innige Gemeinschaft und der Zusammenhalt, der sie bald miteinander verbindet, und die gemeinsamen Ausflüge in den Wald hinter der Autobahn, aber auch das Füreinander-Einstehen, wenn eines von ihnen angegriffen wird. Diese Kameradschaft und Solidarität unter den Kindern ist schön zu lesen.
Dann werden die Kinder älter und verlassen das Heim Stück für Stück, manche dramatisch durch eine Flucht, manche relativ unspektakulär durch Adoption oder Erreichen des 18. Geburtstags. Und sie verlieren sich gegenseitig aus den Augen, bis Jimmy - angespornt durch eine zufällige Begegnung mit einem Mädchen aus dem Kinderheim - sie einen nach dem anderen wieder aufspürt und wir so erfahren, was weiter aus den nun erwachsenen ehemaligen Heimkindern geworden ist.
Bis hierhin war es ein sehr schönes und bewegendes Buch für mich, wenn auch die charakterliche Darstellung mancher Personen, z.B. der Heimleitung Vora und ihrer Tochter, für mich eher blass geblieben ist (was aber durchaus damit zu erklären ist, dass wir die beiden durch die Augen des noch nicht so reflektierten jugendlichen Jimmy wahrnehmen). Der zweite Teil des Buches wird dann aber sehr dramatisch und lässt an schlimmen Umständen und Klischees nichts aus: von Schwerstkriminalität inklusive mehreren Morden bis zu Prostitution, sehr toxischen Beziehungen, schweren Demütigungen und Drogensucht ist da alles dabei - in ein bisschen Slapstick-artig, kabarettistischer Form, sodass ich es inhaltlich nicht mehr ganz ernst nehmen konnte und hier gefühlsmäßig nicht mehr mitgeschwungen bin.
Die Botschaft des Buches, wie sehr eine schwere Heimkindheit das eigene Leben prägen kann und nachwirkt, ist eine wichtige. Dennoch war es für mich etwas zu viel an Dramatik, hier hätte ich mir mehr Differenzierung gewünscht. Und ob wie diese möglich gewesen wäre, weiß ich nicht - immerhin scheint es sich zumindest in Teilen um eine wahre Geschichte zu handeln und so ist es schwer zu beurteilen, was davon wahr ist bzw. was der Anonymisierung der beteiligten Personen dient.
Insgesamt war es jedenfalls ein gutes und nachdenklich machendes Buch mit sehr schöner Sprache, das ich gerne gelesen habe, und über das ich noch weiter nachdenken werde.