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Veröffentlicht am 03.09.2024

Freundschaft und Entfremdung

Ich komme nicht zurück
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Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt ...

Als Kinder in einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet waren sie unzertrennlich: Hanna, die von ihren Großeltern aufgezogen wird, Cem und die ebenfalls mutterlose Zeyna, die mit ihrem Vater aus Tripoli kommt und in der Fremde Fuß fassen muss. In ihrem Roman "Ich komme nicht zurück" beschreibt Rasha Khayat die Geschichte von Freundschaft und Entfremdung aus der Sicht von Hanna, die Jahrzehnte später und in der Coronapandemie zurückkehrt, weil ihre Großmutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus ist. Und auch nach deren Tod bleibt sie in der alten Wohung, gefangen in der Vergangenheit, weil die Gegenwart voller Einsamkeit ist.

Während Hanna weggegangen ist, Lehrerin wurde, ist Cem geblieben. Der Kontakt zu Zeyna ging verloren, sie reist als Fotografin um die Welt. Doch immer wieder sieht Hanna Frauen, die sie an die einstige Freundin erinnern. Über Facebook und über Zeynas Vater versucht sie, Kontakt aufzunehmen, doch Zeyna will offensichtlich nichts mehr von ihr wissen, reagiert in einer einzigen Nachricht brüskiert.

Wie ist es so weit gekommen? Hanna entblättert ihre Erinnerungen, auch die Kindheit und Jugend in den späten 80-ern und 90-er Jahren, als das Wir plötzlich aufgebrochen wurden, als Cem und Zeyna ihr vermittelten, dass sie nicht mitreden könne, eben nicht betroffen sei von Ereignissen wie dem Brandanschlag in Mölln, der das Sicherheitsgefühl der Freunde nachhaltig erschüttert und deren Eltern in tiefe Ängste stürzt. Wieso ist eigentlich gar keine Rede von Solingen, fragte ich mich beim Lesen, denn der dortige Anschlag auf das Haus der Familie Genc lag doch viel näher am Ruhrgebiet, hat die migrantische Gesellschaft in Nordrhein-Westfallen zutiefst aufgewühlt.

Dass Zeyna manches anders sieht, wird auch in ihrer Reaktion auf die Anschläge vom 11. September deutlich. Während Hanna voller Entsetzen den Einsturz der Twin Towers beobachtet, lacht Zeyna, deren Heimatstadt Tripolis von den USA bombardiert worden war. Ihre Mutter kam bei einem Luftangriff ums Leben. Rechtfertigt das die Zustimmung zu Terror? Der erste Riss in der Freundschaft, die schleichende Entfremdung ist da schon absehbar. Später wird Hanna das Geheimnis lüften, das zum Bruch führte.

"Ich komme nicht zurück" ist ein Zeit- und Pandemieroman, der auch zeigt, wie zwischen Lockdown und Kontakbeschränkungen Einsamkeit noch einmal zunimmt. Wird Hanna sich aus ihrem Schneckenhaus befreien? Das Ende zeigt leise Hoffnung. Ein leise erzählender Roman, der auch ein Stück bundesdeutscher Geschichte aufrollt.

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Veröffentlicht am 31.08.2024

Paradise Lost

Der Honigmann
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In Fischbach haben Schauspielerin Fine und Programmierer Tim mit ihrer kleinen Tochter ihre heile Welt gefunden, ein Paradies außerhalb Berlin, dessen Kulturszene und Restaurantangebote angesichts des ...

In Fischbach haben Schauspielerin Fine und Programmierer Tim mit ihrer kleinen Tochter ihre heile Welt gefunden, ein Paradies außerhalb Berlin, dessen Kulturszene und Restaurantangebote angesichts des Eigenheimglücks im Grünen irgendwie so gar nicht mehr lockt. Ihre Nachbarn sind auch ihre Freunde, eine Blase in der Eigenheimsiedlung, alle akademisch-bürgerlich, die Kinder gehen auf eine Montessori-beeinflusste Grundschule, es ist eine kleine, überschaubare Welt und auch ziemlich in sich abgeschlossen. Mit den ursprünglichen Fischbachern hat man nichts zu tun, die sorgen eher für die Infrastruktur von Handwerk und Handel, die die Neuankömmlinge im Alltag so brauchen.

Doch in Peter Huths Roman "Der Honigmann" wird diese heile Welt nicht bleiben. Der Honigmann, das ist der freundliche ältere Herr, der gegenüber dem Spielwarenladen und an der Bushaltestelle gleich an der Schule einen Laden mit Tees, Duftkerzen und Honig eröffnet hat, der Art von Deko und Mitbringseln, die Fine und die anderen Frauen der Neu-Fischbacher mögen. Beim Einkauf gibt es dann noch einen Capucchino und ein nettes Gespräch, etwas Süßes für die Kinder.

Doch dann kursiert ein Brief in der Schule, der ein ganz neues Licht auf den Honigmann wirft. Ist der Laden eher eine Honigfalle, gedacht, um das Vertrauen von Kindern zu erschleichen und ihren Müttern gewissermaßen Sand in die Augen zu streuen? Fine gründet eine WhatsApp-Gruppe für Firschbach-Mütter, um ihre Ängste, Wut und Unsicherheit zu artikulieren. Wie es in sozialen Medien nicht selten ist, eskaliert die Gefühlslage in der Gruppe. Die Gruppe wird zur Büchse der Pandora, und Fine hat längst keine Kontrolle mehr über die Dynamik dort.

Huth beschreibt die zunehmende Paranoia innerhalb der Gemeinschaft, zwischen Ängsten und Sensationsgier, Opportunismus, Neid, und dem Versuch, den sozialen Frieden nicht zu gefährden, am Beispiel dreier ursprünglich so eng befreundeter Paare. Für die einen wird es zur Vertreibung aus dem Paradies, für die anderen ein Leben mit Verdrängung. Die heile Welt wird gnadenlos seziert. Dieses Buch blickt hinter die Speckgürtel-Idylle und demaskiert sie ebenso wie die Dynamiken einer daueraufgeregten social media-Gesellschaft

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Veröffentlicht am 26.08.2024

Amour fou in Sauerland

Der Drahtzieher
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Zugegeben, bei dem Buchtitel "Der Drahtzieher" hatte ich erst mal an politische Intrigen und Ränkespiele gedacht, zumal bei einem Roman, der in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, Doch Sarah ...

Zugegeben, bei dem Buchtitel "Der Drahtzieher" hatte ich erst mal an politische Intrigen und Ränkespiele gedacht, zumal bei einem Roman, der in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, Doch Sarah Pines Debütroman ist vor allem eine Amour Fou, die in Südafrika beginnt und im Hochsauerland ihre Talfahrt erlebt. Denn im Sauerland, nahe Iserlohn, hat Theodor Hasselt seine Fabrik, in der Drähte produziert werden. Damit steht er in der Hierarchie der örtlichen Gesellschaft gleich hinter seinem besten Freund, dem Stahlfabrikanten Albert - was nichts an der unterschwelligen Rivalität der beiden Männer ändert.

Eigentlich ein bodenständiger Westfale, verlässt Theodor zu Beginn des Buches seine Heimat, um in Südafrika ein Eisenbahnprojekt vom Kap nach Kairo voranzutreiben. Daraus wird zwar nichts, doch auf der Farm seines Onkels, auf der Theodor unterkommt und trotz des deutschen Ambientes so gar nicht angetan vom afrikanischen Leben ist, trifft er seine Cousine Alba, praktischerweise nicht direkt mit ihm verwandt, da aus der ersten Ehe der Tante.

Alma wirkt zwar merkwürdig passiv, doch zugleich äußerst verführerisch und ist, wie Theodor bald feststellt, alles andere als prüde. Als sie eine Schwangerschaft vortäuscht, nimmt er sie mit ins Sauerland und schnell kristallisiert sich heraus, dass das Paar nicht miteinander kann, aber auch nicht ohne. Monogam ist keiner von beiden, doch Theodor, der eigentlich nicht aus dem Glashaus heraus mit Steinen werfen sollte, ist voller Eifersucht, vor allem, als er in Albert einen Nebenbuhler wittert.

Was eigentlich voller Intensität und Leidenschaft begonnen hat, wird im Verlauf des Romans vor allem zum Leiden. Albas Weigerung, ihm ihre Untreue zu gestehen, raubt dem selbstbewussten Patriarchen den letzten Nerv. Immer mehr ist das Verhältnis von Psychoterror geprägt, während beide gleichzeitig voller Unsicherheiten und Verlangen sind.

Sprachlich mal fein ziseliert, mal brachial, zeichnet Pines eines Gesellschaft im Umbruch, in der Theodor am Alten festhalten will, an den klaren Regeln einer Klassengesellschaft, während sich am Horizont große Veränderungen abzeichnen, die im Sauerland allerdings nur fernes Donnergrollen sind. Vor allem ist "Der Drahtzieher" das Psychogramm einer leidenschaftlichen Beziehung, die in gegenseitiger emotionaler Zerfleischung endet.

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Veröffentlicht am 25.08.2024

Amerikanische Träume

Das amerikanische Versprechen
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Von diesem Wahljahr hängt viel ab - unter anderem, ob in den USA Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht. Gerade angesichts der Erfahrung seiner ersten Amtszeit dürften sich viele Europäer fragen, ...

Von diesem Wahljahr hängt viel ab - unter anderem, ob in den USA Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht. Gerade angesichts der Erfahrung seiner ersten Amtszeit dürften sich viele Europäer fragen, wieso dieser Mann bei einer großen Zahl von Amerikanern überhaupt als wählbar gilt. Haben die denn nichts gelernt?

In ihrem Buch "Das amerikanische Versprechen" erzählt Kerstin Kohlenberg anhand von drei Lebensgeschichten, wie die Mitte der Gesellschaft in den USA immer kleiner wird, wie Aufstiegsträume immer schwieriger umzusetzen sind und wie die Gesellschaft polarisiert. Kohlenberg war, unter anderem in den Trump-Jahren, USA-Korrespondentin der "Zeit" und hat ihre Protagonisten dort getroffen und über längere Zeit begleitet. Im Stil einer literarischen Reportage erzählt sie über Walter, einen Black Lives Matter-Aktivisten, Stephen aus Kentucky, der beim Sturm auf das Kapitol einer der ersten war, die die Absperrungen überwanden und Magali, Tochter einer mexikanischen Einwandererfamilie ohne Papiere, die sich mit Ehrgeiz und harter Arbeit den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht.

Gerade Walter und Stephen sind Gestalten, zu denen es schwer ist, Nähe zu entwickeln - Stephen hatte das Pech, in eine Familie hineingeboren zu werden, in der Drogen und Gewalt den Alltag prägten, er selbst hat auch so manche falsche Entscheidung getroffen und sich gewissermaßen in der Youtube und Tiktok-blase der Trump-Anhänger radikalisiert. Eigentlich ein Loser, mit dem man durchaus Mitleid haben kann, der aber trotzdem fremd bleibt.

Und Walter aus der Bronx ist eigentlich reichlich selbstgerecht, hat die ihm wiederholt gebotenen Chancen und offenen Türen nicht genutzt, kann sich auch nicht damit entschuldigen, dass er keinen Vater in seinem Leben hatte oder in der Familie kein solides Wertesystem vermittelt bekam. Statt dessen führt er sich über weite Strecken wie ein Kind in der Trotzphase auf, will Respekt und wichtig genommen werden, ist aber nicht bereit, sich dafür langfristig anzustrengen und zieht, wenn es schief geht, schmollend die Rassismus-Karte, wobei er sich gleichzeitig wegen seines Ego-Kurses mit anderen Aktivisten etwa der Black Lives Matter-Bewegung entzweit.

Insofern hat die Autorin durchaus polarisierende Amerikaner ausgewählt, um über die zersplitternde Gesellschaft zu schreiben. Ob das nun tatsächlich das Spiegelbild der US-Gesellschaft ist? Dennoch interessant zu lesen.

Veröffentlicht am 22.08.2024

Freundschaften und Abgründe

Wenn die Nacht endet
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Es ist kurz vor der Jahrtausendwende, kurz vor dem Schulabschluss für die Jugendlichen im schwedischen Skavböke. Tiefste Provinz, doch nur Sander träumt vom Auf- und Ausbruch. Nach einer alkohollastigen ...

Es ist kurz vor der Jahrtausendwende, kurz vor dem Schulabschluss für die Jugendlichen im schwedischen Skavböke. Tiefste Provinz, doch nur Sander träumt vom Auf- und Ausbruch. Nach einer alkohollastigen Party wird Mikael, der älteste Sohn des reichsten Bauern am Ort, erschlagen aufgefunden. Die Polizistinnen Gerd und Siri versuchen, die Wege der Jugendlichen nach der Party nachzuverfolgen, doch dank des Alkoholpegels können viele Zeugen nur diffuse Angaben machen. Die Beamtinnen werden auf Sander und seinen besten Freund Killian aufmerksam, sind überzeugt, dass sie etwas zu verbergen haben. Nachweisen lässt sich dem unzertrennlichen Duo jedoch nichts.

20 Jahre später bringt ein weiterer Mord den Polizisten Vidar zurück auf den nie gelösten cold case von 1999. Gibt es Zusammenhänge? Welche Abgründe verbergen sich in der scheinbaren Provinzidylle? Und haben die Menschen mit der Vergangenheit tatsächlich abgeschlossen?

Christoffer Carlsson hat mit "Wenn die Nacht endet" einen spannenden Kriminalroman über Freundschaft, Schuld und Loyalität geschrieben, der sich in einem gemächlichen Tempo entwickelt und mit gelegentlichen Handlungssprüngen Aufmerksamkeit erfordert. Carlsson hat Kriminologie studiert, doch der Schwerpunkt des Buches liegt über weite Strecken nicht auf der Ermittlungsarbeit der Polizei, sondern auf der Dynamik zwischen Sander und Killian, die sich von ihrer Persönlichkeit völlig unterscheiden, aber zugleich unverbrüchlich zueinander stehen.

Man sollte "Wenn die Nacht endet" nicht so nebenbei lesen, sondern sich auf den Text konzentrieren, denn einige Hinweise, die der Autor streut, erhalten erst später eine Bedeutung. Das Buch ist ein Stück weit eine Coming of Age-Geschichte mit Geheimnissen, die erst ganz zum Schluss gelöst werden. Stark ist der psychologische Aspekt des Romans, denn der Mord an Mikael verändert die Dorfgemeinschaft und führt zu weiteren Konsequenzen. Der Tod hat Auswirkungen auf Hinterbliebene und Mikaels Altersgenossen gleichermaßen. Ein Verdacht zerreißt das Dorfgefüge mit Folgen, die auch nach 20 Jahren noch in inneren Abgründen schlummern.

Sprachlich beeindruckend und empfehlenswert für alle, die Lust auf psychologische Spannung haben.

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