Düsterer Blick hinter "Kulissen"!
Historienbuch mit feinziselierter Sprache und ungewöhnlicher Erzählstruktur - eine großartige intellektuelle Herausforderung.
"Bin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel. Nichts ...
Historienbuch mit feinziselierter Sprache und ungewöhnlicher Erzählstruktur - eine großartige intellektuelle Herausforderung.
"Bin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel. Nichts weckt mich nachts auf, nicht, ehe ich bereit bin. Aber in jener Nacht war mein Schlaf unruhig und morgens wurde er von angstvollen Rufen zerschnitten."
So fängt dieses Buch der englischen Autorin Samantha Harvey an, die 1975 geboren ist und Vorlesungen an der Bath Spa University gibt. Dies ist ihr viertes Buch der Fiktion und 2018 im Original erschienen.
1491, Spätmittelalter.
Die Fastenzeit im Dorf Oakham steht unmittelbar bevor.
Dann passiert eines Nachts etwas, das gravierende Folgen haben wird.
Thomas Newman, der reichste und wohl mächtigste Mann des Fleckens ist tot - im Fluß.
Was ist passiert? Wurde er ermordet, beging er Suizid oder war es ein schnöder Unfall? Alle drei Optionen sind möglich.
Der Dekan macht Druck auf den Priester des Ortes, John Reve. Er soll aus den verstreuten Mosaiksteinchen sich ein Gesamtbild legen, um das Enigma zu lösen.
Ein kollektives Psychogramm des Dorfes ergibt sich aus den Beichten diverser Dorfanrainer. Düstere Dinge werden ans Tageslicht gespült und der Druck das Mysterium zu lösen steigt ...
Das ist kein Krimi - dieses Element ist nur ein Aspekt dieses raffiniert konstruierten Buches. Es ist eine opulente Ausleuchtung hinter die "Kulissen" eines bitterarmen kleinen Örtchens und nicht nur das.
Der Charakter des John Reve wird ebenfalls mit Röntgenstrahlung durchdrungen sowie sein Verhältnis zum Toten.
Es ist ein frostigkalter Februar, der Wind droht im übertragenen Sinne das Fleisch von den Knochen zu stanzen und die dräuende Fastenzeit macht die mürrischen Leute nicht gerade fröhlicher.
Es ist auch ein Porträt des psychosozialen Zeitgeistes jener Epoche sowie ein Echo auf unsere Moderne in einer nur scheinbar fernen Zeit, weit weg wie ein exotischer fremder Planet, verortet.
Das Bigotte, Repressive, und Freudlose, was mit dem Glauben einhergehen kann. Kein bißchen Lebenslust, wie man es zum Beispiel bei Gottesdiensten mit anwesenden Gospelchören sieht.
Offenbar glauben diese Leute tatsächlich, daß die Belohnung im Paradies wartet, weswegen sie im Grunde genommen nur als verschwommene Schemen ihrer selbst vegetieren.
Das Bigotte und Heuchlerische ergibt sich daraus, daß viele Menschen zwar gottesfürchtig tun, aber dennoch Dinge "begehen", die nun wahrlich nicht religionskonform sind.
Zu John Reve habe ich ein gespaltenes Verhältnis wie das Atom in der Bombe. Er ist ein äußerst ambivalenter Protagonist, wohl selbst nicht ganz koscher, so scheint es, aber durch und durch menschlich. Hat er etwas zu verbergen? Und wenn ja, was?
Aber daß die Menschen, inklusive Johns, so fehlbaren sind, macht sie authentisch und greifbar. Keiner ist vollkommen oder göttlicher als Gott.
Die Erzählperspektive des Buches verläuft antizyklisch ( also rückwärts ) von Tag 4 bis Tag 1, vergleichbar der Struktur des Filmes " Memento" ( sehr zu empfehlen! ).
Das Buch hat eine opulente Blüte, die sich nach und nach auffächert in einem eher langsamen, aber intensiven Plot.
Die Sprache ist reich von expressiven, poetischen Metaphern, anspruchsvoll, eine intellektuelle Herausforderung für den Leser, der sehr involviert mitdenken möchte. Kein Buch für nebenher.
Philosophie, historische Reflektion, Psychogramm, metaphysisches Sinnieren, eine kongeniale Mischung und am Ende schließt sich der Cyklos, auch wenn einige Fragen offenbleiben.