Zwiespältiges Debüt
Eigentlich spannend: Cemal möchte sich nicht öffnen, zumindest nicht Georg gegenüber, ihm nicht mehr von sich, seiner Familie erzählen. Von den Geschichten, die ihm durch den Kopf schießen, von seinen ...
Eigentlich spannend: Cemal möchte sich nicht öffnen, zumindest nicht Georg gegenüber, ihm nicht mehr von sich, seiner Familie erzählen. Von den Geschichten, die ihm durch den Kopf schießen, von seinen Eltern und Großeltern und Urgroßeltern in der Türkei. Geschichten, die wichtig und spannend sind für seine Herkunft und sein Wesen. Und gleichzeitig: Die, die den Verlauf von „ruh“ eher zäh machen. Die, für mich persönlich, viel weniger interessant sind als Cemals Persönlichkeit, sein Leben zwischen Ex-Frau Gül, Tochter Ekin und neuer Liebe Georg. Stellt sich die Frage: Liegt es am Buch oder an mir?
Cemals Leben ist nicht einfach, von Anfang an. Aufgewachsen im arabischsprachigen Teil der Türkei, ohne Vater und Schwester, die in Deutschland geblieben sind. Erst mit acht Jahren kommt er nach, in ein neues Leben, ohne die Großeltern. Irgendwann zieht es ihm vom Land in die große Stadt, er heiratet Gül, wird Vater von Ekin, doch ein zweites Kind wird erst einmal aufgeschoben und dann bleibt es bei der einen Tochter und die Ehe ist auch zu Ende. Als Lehrer wird er rassistisch beleidigt und vom Direktor nicht in Schutz genommen. Und dann droht auch noch seiner sechsjährigen Tochter eine schlechte Note, da diese sich gegen ein fremdenfeindliches Lied im Musikunterricht zur Wehr gesetzt hat.
Die Figuren in Şehnaz Dosts Debütroman schwanken zwischen Aufbegehren und Resignation, wenn es um Alltagsrassismus geht. Und dieser Zwiespalt vom Leben mit Migrationshintergrund in Deutschland ist stark geschrieben. Viel mehr, viel intensiver hätte ich mir diesen so wichtigen Teil von „ruh“ gewünscht. Und auch Cemals Unsicherheit in Bezug auf seine Beziehung mit Georg, ihre gemeinsame Freundschaft mit Anne ist spannend, ja, vielleicht ein Roman für sich, in „ruh“ aber leider eher nur ein Nebenfluss, der irgendwann zu versanden droht.
Dass die Geschichte rund um Cemals Familie nicht so richtig ankommt, ist sicher auch einem Stück mir geschuldet. Ich verliere gerne mal den Faden bei Erzählungen über Generationen hinweg. Das „Wer war noch mal wer“ wird zwar durch den Stammbaum am Ende des Buches abgefedert, aber irgendwie hat mich dieser Teil von Dosts Roman nicht gefesselt. Eine weitere Hürde: Mir fehlt der sprachliche Hintergrund, die vielen türkischen und arabischen Begriffe zu verstehen, die im Buch Teil der Erzählung sind. Sie sind extrem gut eingebunden, man liest alles flüssig, aber stolpert doch, muss googeln, und das macht es doch etwas anstrengender. Hätte es ein Glossar gebraucht, wie häufig bei japanischen oder koreanischen Büchern? Oder doch mehr Verständnis für Begrifflichkeiten, die Teil der deutschen Sprache werden könnten?
Wenn ich beide Teile von Şehnaz Dosts „ruh“ bewerte, dann bekommt Cemals Gegenwart 4 von 5 Sternen, seine Familiengeschichte aber nur 2. Macht 3 von 5. Aber wer Generationengeschichten mag, der wird auch hier mehr Freude haben. Und mit Blick auf das Leben von türkischstämmigen Deutschen und den unerträglichen Rassismus, der ihnen im Alltag entgegenschlägt, ist „ruh“ auch allen anderen eine Empfehlung wert. Und die Hoffnung groß, dass Dosts nächster Roman die Stärken des Debüts bündelt und noch besser wird.