Ein leider nur allzu realistischer Roman
Helsinki, 2016. Immer wieder sitzt sie auf derselben Bank im „Hundepark“ und beobachtet die Leute. Nun, nicht irgendwelche Leute, sondern stets diese eine Familie, die dort ihren Hund ausführt. Die adrette ...
Helsinki, 2016. Immer wieder sitzt sie auf derselben Bank im „Hundepark“ und beobachtet die Leute. Nun, nicht irgendwelche Leute, sondern stets diese eine Familie, die dort ihren Hund ausführt. Die adrette Mutter. Den engagierten Vater. Die entzückenden Kinder. Sie: Das ist Olenka, eine einst schöne, einst erfolgreiche junge Ukrainerin. Einst glaubte sie an eine glückliche Zukunft ohne Geldsorgen und mit einem geliebten Mann an ihrer Seite. Jetzt ist sie sichtlich vom Leben gezeichnet, auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, in Angst um ihr Leben. Und es soll noch schlimmer kommen, denn eines Tages sitzt Olenka nicht mehr allein auf ihrer Bank. Unvermittelt taucht Dana auf, genauso abgezehrt und heruntergekommen wie sie selbst. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es Olenka war, die Dana ins Unglück stürzte. Und die scheint nun auf Rache aus zu sein …
„Hundepark“ mutet anfänglich wie ein Thriller an – und es gelingt Sofi Oksanen vortrefflich, die Spannung subtil aufrechtzuerhalten –, doch der Roman ist weit mehr als das. In Rückblenden zeichnet die Ich-Erzählerin Olenka ihr Leben bis zu dem schicksalhaften Wiedersehen mit Dana nach: ihre Kindheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Versuche der Menschen, sich in der plötzlich veränderten politischen und gesellschaftlichen Ordnung zurechtzufinden, die alten Seilschaften und Mentalitäten, die sich nicht mit einem Handstreich wegwischen lassen – und die neuen „Geschäftsmodelle“, die sich unvermutet daraus ergeben.
Und damit eröffnet sich der eigentliche Themenkomplex des Romans, denn in ein solches „Geschäftsmodell“ gerät unversehens Olenka, das erfolglose Model, das zwar keine nennenswerte Ausbildung besitzt, dafür aber über etwas anderes verfügt: gesunde Eizellen. Ein Gut, für das wohlhabende europäische Paare, deren Kinderwunsch bislang unerfüllt blieb, bereit sind, sehr viel Geld zu zahlen. Und das ansonsten chancenlosen jungen Frauen eine vermeintliche Perspektive bietet. Doch wo große Umsätze locken, ist gemeinhin die Ausbeutung nicht fern, wird aus der Medizin eine Industrie. Mit Gewinnern auf der einen – und Verliererinnen auf der anderen Seite.
Bis ich „Hundepark“ von Sofi Oksanen (aus dem Finnischen von Angela Plöger) vor einigen Wochen las, war mir nicht bekannt, dass die Ukraine eines der wenigen Länder ist, in denen eine kommerzielle Leihmutterschaft gesetzlich erlaubt ist. Noch hätte ich vermutet, was diese Kommerzialisierung für die Leihmütter mitunter bedeuten kann. Und am allerwenigsten hätte ich geahnt, wie grundlegend und dramatisch sich die Situation in der Ukraine kurz nach meiner Lektüre ändern sollte. Ein brutaleres Zusammentreffen von Fiktion und Realität ist kaum vorstellbar, denn natürlich sind auch die ukrainischen Leihmütter von dem Angriffskrieg betroffen (in den Medien finden sich wiederholt Beiträge und Berichte zu ihrer Situation).
Eine Leseempfehlung ist in diesem Kontext für mich nur schwer uneingeschränkt auszusprechen, doch möchte ich betonen, dass das ausschließlich an der grausamen Lebenswirklichkeit liegt, und keineswegs an dem Roman. Der ist in ganz besonderem Maße lesenswert!