REZENSION - „Mein Name ist Ana. Ich war die Frau von Jesus aus Nazareth.“ Mit diesem provokanten, streng bibelgläubige Menschen vielleicht erschreckenden Zitat beginnt „Das Buch Ana“, der faszinierende Roman der amerikanischen Schriftstellerin Sue Monk Kidd (72), bekannt geworden durch ihren Bestseller „Die Bienenhüterin“. Mit ihrem fiktiven „Buch Ana“ stellt sie den Büchern der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ein aus weiblicher Sicht verfasstes Buch gegenüber und erlaubt sich damit ein äußerst interessantes Gedankenspiel.
Es beginnt im Jahr 16 im römisch besetzten Galiläa. Die 14-jährige Ana, in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen, ist ein intelligentes Mädchen mit rebellischem Geist. Mit Erlaubnis ihres Vaters, des obersten Schriftgelehrten und Beraters von Herodes Antipas, hat sie Lesen und Schreiben gelernt. Ihr Vater will sie an einen alten Witwer verheiraten. Bei der ersten Zusammenkunft, bei dem Ana entsetzt reagiert und stürzt, hilft ihr ein junger Mann auf. Als Ana einige Zeit später – nach dem plötzlichen Tod des Witwers – Herodes als Konkubine überlassen werden soll, flieht sie mit ihrer Tante Yaltha ins nahe Dorf Nazareth. Hier trifft sie den jungen Mann wieder – Jesus von Nazareth. Er lebt mit zwei Brüdern und seiner Schwester, Schwägerin und seiner Mutter Maria in ärmlichen Verhältnissen und arbeitet wie sein verstorbener Vater als Zimmermann und Steinmetz.
Im Roman ist Jesus von Nazareth nicht der biblische Sohn Gottes, sondern der auch von Historikern anerkannte einfache jüdische Handwerker, Mitte Zwanzig, unter der römischen Besatzung leidend und hart arbeitend, um der Großfamilie die Existenz zu sichern. So unglaublich ein verheirateter Jesus für Bibelgläubige sein mag, so wahrscheinlich ist dessen Ehe für die Autorin, die sich auf die Historie beruft: Zu Jesu Lebzeiten sei es für einen jungen Mann gesellschaftlich, familiär und sogar religiös eine Pflicht gewesen zu heiraten, heißt es in ihrem Nachwort. Anderenfalls hätte er seine Familie beschämt. „Wäre die westliche Welt eine andere, wenn Jesus verheiratet gewesen wäre und seine Frau Teil der Geschichte geworden wäre? Vielleicht wäre das Verhältnis zwischen Sexualität und Glauben weniger gebrochen. Möglicherweise gäbe es auch den Zölibat nicht“, setzt die Autorin ihren Gedankengang fort.
Deshalb ist auch nicht Jesus, dessen Weg von seiner Begegnung mit dem Täufer Johannes bis zur Kreuzigung wir mitverfolgen, sondern eben Ana die Hauptfigur dieses Romans. Die junge Frau schreibt die Geschichten der vergessenen Frauen der Heiligen Schrift für die Nachwelt auf. Der „kleine Donner“, so der Spitzname der jungen Rebellin, will mit ihren Schriften den unterdrückten Frauen eine Stimme geben. „Wenn Jesus wirklich eine Frau hatte“, folgert die Autorin im Nachwort, „dann wäre Ana die Frau, die am deutlichsten zum Schweigen gebracht wurde und am dringensten eine Stimme brauchte.“ Diese Stimme wollte ihr Sue Monk Kidd mit diesem Roman geben.
Und doch ist „Das Buch Ana“ kein emanzipatorischer Frauenroman, sondern fesselt seine Leser auf andere Art: Zum Einen wird man gezwungen, über Leben, Wirken und die Person Jesu nachzudenken, ob nun aus christlicher oder historischer Sicht. Andererseits wird man durch die authentische Schilderung des alltäglichen Lebens zu Jesu Zeit – vor allem jenes der Frauen – in den Bann gezogen. Bis ins Kleinste beschreibt die Autorin den Alltag sowohl der wohlhabenden, meist opportunistisch der römischen Besatzungsmacht angepassten als auch der armen Bevölkerungsschicht, und dies nicht nur in Palästina, sondern auch in Ägypten. „Das Buch Ana“ ist interessant, zugleich spannend und unterhaltsam zu lesen und hinterlässt sicher bei vielen einen nachhaltigen Eindruck.