Der letzte Woche neu auf dem deutschen Markt erschienene Thriller „Du sollst nicht leben“ war das erste Werk, das ich von Tania Carver(1) gelesen habe. Entsprechend war ich mit den Figuren dieser Reihe nicht vertraut, doch das hat meinem Lesevergnügen keinen Abbruch getan.
An der Oberfläche haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun, der sich dazu berufen fühlt, Gerechtigkeit dorthin zu bringen, wo das Auge des Gesetzes aus dem einen oder anderen Grund blind ist. Detective Inspector Phil Brennan, welcher der Ehemann der namensgebenden Marina Esposito ist, wird von diesem Täter auserkoren, als Verbindung zur Polizei und zur Presse zu dienen. Während jene Ermittlungen laufen, verfolgen wir Marina, wie sie eine sehr merkwürdige Dame untersucht und für die Polizei ein psychologisches Profil erstellen soll. Darüber hinaus gibt es die anfangs schwer einzuordnende Geschichte um eine Prostituierte und einen ehemaligen Gang-Boss. Man spürt, dass es Verbindungen gibt, doch man weiß nicht genau, wo diese verlaufen.
Obwohl ich die Chakatere nicht aus vorigen Büchern kannte, konnte ich doch alle schnell einordnen und mir ein Bild ihrer Eigenschaften machen. Sie erlangen nie echte Tiefe, doch haben ausreichend Leben in sich, dass sie interessant bleiben und die Geschichte voran bringen. Leider habe ich mich in zwei Charaktere verliebt, die offensichtlich nur für dieses Buch vorgesehen waren und keine wiederkehrenden Figuren sein werden.
Tatsächlich war es nämlich die Geschichte um die Prostituierte und den ehemaligen Gang-Boss, welche mich am meisten berührt hat. Diese beiden Charaktere waren so lebensecht und so tragisch, dass ich nicht anders konnte, als mit ihnen mitzufühlen. Sie geben der Stadt, in der die Geschichte spielt, sofort ein authentisches, hartes, unverzeihliches Gefühl, das mich gepackt und festgehalten hat. Auch die Hintergrundgeschichte zu den beiden, die wir Stück für Stück erfahren, hat mich mitgerissen.
Anders war es leider mit den Geschehnissen rund um Marina. Normalerweise bin ich für verrückte Psychopathen, die offensichtlich sehr intelligent sind, immer zu haben, doch irgendetwas an dieser speziellen Frau hat mich schnell gelangweilt. Die ersten paar Abschnitte mit ihr waren noch in Ordnung, doch dann wurde das Spiel ermüdend. Ja, sie hat vermutlich noch einige Tricks in ihrem Ärmel, doch wenn es nicht die Absicht der Autorin ist, das zeitnah aufzuklären, muss sie das nicht ständig mit dem Holzhammer demonstrieren.
Auf der anderen Seite ist der psychopathische „Rechtsprecher“, der den Mittelpunkt dieses Thrillers bildet, eine wirklich interessante Figur. Natürlich entsprechen solche Charaktere immer einem bestimmten Stereotyp, man kann bei einem intelligenten Serienmörder schlecht das Rad neu erfinden. Und so fühlte ich mich augenblicklich an den Antagonisten aus „Ich bin die Nacht“ von Ethan Cross erinnert, welchen ich, wie der Rezension zu entnehmen ist, sehr schlecht konstruiert fand. Carver macht nämlich mit dem „Rechtsprecher“ genau das richtig, was ich bei Ackerman von Cross kritisiert hatte: Er wird uns als intelligent präsentiert, er hat eine Ideologie, die er durchzieht und die gerade so verständlich ist, dass man sich als Leser irgendwie damit identifizieren könnte, und er ist brutal genug, um wahnsinnig zu wirken. Natürlich hat auch er ein heftiges psychisches Problem, doch anstatt dass uns das direkt auf die Nase gebunden wird, wartet die Autorin bis zum Schluss und klärt es häppchenweise auf. Die Ursachen seiner Probleme ergeben ein stimmiges Bild, auch wenn die Aufklärung vielleicht ein wenig eleganter hätte geschehen können. Sie wird am Ende für meinen Geschmack zu leicht und zu direkt einfach erzählt.
Das ist tatsächlich auch einer meiner größten Kritikpunkte an diesem Thriller: Die Autorin gibt uns immer mal wieder Einblicke in die Hintergründe der Figuren, doch so interessant und wichtig dies auch ist, so unelegant löst sie das. Jedes Mal, wenn so ein ein- bis dreiseitiger Abschnitt über die Hintergründe einer Figur kam, wurde ich aus dem Fluss gerissen und hörte den netten CinemaSins-Erzähler „Narration“ und „Exposition“ sagen. Es waren Fremdkörper in einem ansonsten runden Text. Ich bin mir auch sicher, dass es problemlos möglich gewesen wäre, diese Informationen in kleinere Stücke aufzuteilen und sie in mehreren verschiedenen Szenen deutlich beiläufiger einfließen zu lassen. Mit anderen Aspekten der Handlung und der Hintergründe ist Carver das nämlich auch gelungen.
Das Ende des Falls selbst ist ein wenig überraschend, aber angemessen dramatisch, ohne übertrieben zu wirken. Lediglich der noch schnell hinterher geschobene Cliffhanger, der wohl auf das nächste Buch hindeuten soll, hat mir nicht so gefallen, da er zu deutlich als Cliffhanger zu spüren war. Vielleicht nehmen Fans, welche die Figuren besser kennen und die Geschehnisse besser einordnen können, dies anders wahr, für mich jedoch war das tatsächlich ein Fall von übertriebener Dramatik.
FAZIT:
Der Thriller „Du sollst nicht leben“ von Tania Carver ist ein gutes Beispiel dafür, wie man einen richtigen Thriller schreibt. Die Figuren haben genug Tiefe, der Fall ist interessant und auch die Antagonisten werden auf eine Art beschrieben, dass sie anfangs furchteinflößend wirken. Die drei unterschiedlichen Handlungsstränge werden so geschickt präsentiert, dass man sich selten langweilt und nie verloren geht. Trotz kleinerer Probleme im Verlauf des Buches hatte ich sehr viel Spaß bei der Lektüre und würde nicht nur Fans, sondern auch Neueinsteigern empfehlen, dem Duo Esposito/Brennan eine Chance zu geben!
----
(1) Tania Carver ist das Pseudonym für Martyn Waites. Da es das explizite Anliegen des Autors und seines Lektors war, einen weiblichen Thriller-Autor zu kreieren, werde ich in meinem Text stets von „der Autorin“ sprechen, um dem gerecht zu werden.