INHALT
Das Skandinavische Viertel in Ostberlin kennt niemand so gut wie Matthias Weber. Als Kind unternimmt er hier in den siebziger Jahren Streifzüge, beflügelt von seiner reichen Phantasie, zugleich auf der Flucht vor inneren Dämonen. Vater, Onkel, Großmutter: nette Leute, und doch jeder auf seine Weise in Schuld verstrickt. Nur sehr langsam durchdringt der Junge das Geflecht aus Geheimnis und Verrat in seiner Familie. Jahre später kehrt Matthias in sein Revier zurück, das sich seit dem Fall der Mauer im Umbruch befindet. Er wird Wohnungsmakler, und da sich der umgängliche Grübler nicht zum Haifisch eignet, macht er es sich zur Aufgabe, Neureiche und Großkotze aus seinem Viertel fernzuhalten. (Verlagstext – Klett-Cotta Verlag)
MEINE MEINUNG
“Skandinavisches Viertel” von Torsten Schulz ist ein sehr einfühlsam erzählter, thematisch ansprechender und nachdenklich stimmender Roman, der mich mit seiner bewegenden ostdeutschen Familiengeschichte noch länger beschäftigt hat. Der Autor versteht es hervorragend, in seinem Roman die Komplexität des Lebens in ausdrucksstarken und zum Teil auch skurrilen Episoden einzufangen. Der gefühlvolle, prägnante Erzählstil gewürzt mit einer guten Portion Humor und ironischen Pointen konnte mich schnell gefangen nehmen.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Hauptfigur Matthias Weber, dessen Lebensgeschichte allmählich und sehr behutsam in sich zeitlich abwechselnden Erzählsträngen enthüllt wird. In vielen Rückblenden lernen wir den jungen, aufgeweckten Matthias kennen, der seine Kindheit und Jugend im Ostberlin der 70er und 80er Jahre verbrachte. Als Jugendlicher kennt er sich in seinem Skandinavischen Viertel im Grenzgebiet in der Nähe zur Mauer bestens aus und fühlt sich dort oft wohler als zu Hause. Auf seinen endlosen Streifzügen lässt er seiner Fantasie freien Lauf und lebt seine kleinen Freiheiten aus. Er erschafft sich seine eigene Welt, in dem er die Straßen seines Viertels kurzerhand nach skandinavischen Vorbildern umbenennt.
Sehr eindringlich, aber dennoch sehr subtil erzählt Schulz die bedrückende Geschichte von Matthias ostdeutscher Familie aus dem Arbeitermilieu - alles in allem zwar nette, aber eher schwierige Charaktere, die gefangen sind in ihrer Schuld, in ihren schon lange ausgeträumten Träumen und die sich mit ihrem Leben mehr schlecht als recht arrangiert haben. Erst langsam erschließt sich dem Leser ein Zugang zu ihnen. Wir erleben eine Familie, in der es viele Lügen und Geheimnisse gibt und in der Verdrängen, Sprachlosigkeit und bei einigen auch die fatale Flucht zum Alkohol als Problemlöser zur Tagesordnung gehört. Geschickt thematisiert der Autor dabei auch folgenschwere, politische Verstrickungen einiger Familienmitglieder in der Vergangenheit, über die man in der DDR besser nicht redete. Immer wieder versucht der neugierige Junge das komplizierte Geflecht der unter der Oberfläche schwelenden Verstörungen in der Familie durch Nachfragen zu entwirren, sorgsam gehütete Familiengeheimnisse und tragische Ereignisse ans Licht zu bringen. Doch wird es noch Jahrzehnte dauern, bis er schließlich einige der unausgesprochenen, bedrückenden Wahrheiten erfahren wird. Zunehmend erkennt der Leser, dass Matthias problematische Familienhintergründe auch deutliche Spuren bei ihm hinterlassen und sein Leben nachhaltig geprägt haben. In der Erzählperspektive der Gegenwart lernen wir den inzwischen 50-jährigen Matthias kennen, der sich nach seinem kläglichen Scheitern als Journalist und der Rückkehr aus dem Ausland als führender Immobilienmakler in seinem alten Heimatviertel etabliert hat. Fest entschlossen geldgieren Immobilienhaien und der Gentrifizierung entgegen zu wirken, lebt er ein ambivalentes Machtstreben aus und versucht für soziale Gerechtigkeit in seinem Viertel zu sorgen, indem er nach seinen eigenen Kriterien passende Kunden aussucht. Hervorragend ist es dem Autor gelungen aufzuzeigen, wozu die fehlende Aufarbeitung von Matthias unglücklich verstrickter Familiengeschichte geführt hat. Die Unfähigkeit, sich seinen Verlusten, Ängste und Konflikten zu stellen und an tragfähige Bindungen zu arbeiten, führt schließlich zu einer zunehmenden Einsamkeit. Stattdessen verzettelt sich die Hauptfigur in unbefriedigenden Frauengeschichten, stets auf der Suche nach Glück und innerer Freiheit.
Sehr fesselnd ist es, im Laufe der verschachtelten Erzählweise die vielen Geheimnisse und tragischen Verwicklungen der Familie zu ergründen. Bewusst hat der Autor neben dem offenen Ausklang seines Romans auch einige Deutungen der Fantasie der Leser überlassen.
FAZIT
Eine tiefgründige, nachdenklich stimmende Geschichte über die Komplexität und Widrigkeiten des Lebens! Ein anspruchsvolles, lohnendes Leseerlebnis!