Beeindruckend.
„Der gefrorene Fluss“ ist ein historischer Roman, in dem reale Figuren und belegbare Ereignisse mit Fiktion und dichterischer Freiheit zu einer eindrucksvollen und ausdrucksstarken Geschichte kombiniert ...
„Der gefrorene Fluss“ ist ein historischer Roman, in dem reale Figuren und belegbare Ereignisse mit Fiktion und dichterischer Freiheit zu einer eindrucksvollen und ausdrucksstarken Geschichte kombiniert wurden.
Wir begeben uns nach Hallowell um 1780 und in das Leben von Martha Ballard – eine angesehene Hebamme und Heilerin, die ihre helfende Tätigkeit und ihr Dasein als Mutter mit ebenso viel Leidenschaft ausübt, wie die Suche nach Wahrheiten und das Streben nach Gerechtigkeit.
Als im Winter die Leiche von Joshua Burgess im Kennebee River geborgen wird, soll Martha die Todesursache feststellen und kommt zu dem Schluss, dass der mutmaßliche Vergewaltiger nicht ertrunken ist. Dass diese Äußerung öffentlich angezweifelt wird, lässt Ballard nicht los und treibt sie dazu, im Stillen zu forschen. Dabei gerät sie selbst in brenzlige Situationen, deckt unangenehme Tatsachen auf, offenbart die unterschiedlichsten, dunkelsten Facetten der rechtschaffensten Bürger und hilft den wahren Opfern, über Unaussprechliches hinwegzukommen. …
Ariel Lawhon lässt uns mit atmosphärischen Worten und authentischen Gegebenheiten zur Gänze in ein kaltes Damals und in das bedrückende Geschehen eintauchen. Erzählt wird aus der Sicht der 54-jährigen Hebamme, die ihrer Zeit merklich voraus ist. Dass sie diesen Umstand auch ihrem Ehemann Ephraim verdankt, der seiner Frau das Lesen und Schreiben lehrte und sie in allen Belangen unterstützt, war für die Verhältnisse des 17. Jahrhunderts ebenso wenig selbstverständlich wie die liebevolle, rücksichtsvolle Beziehung der beiden. Kleine Rückblenden verstärken den Eindruck, dass es sich bei den Ballards um eine Familie handelt, die aufeinander acht gibt.
Martha, selbst Mutter von sechs Kindern, selbst eine Mutter, die ihr eigenes Fleisch und Blut begraben musste, ist zur Stelle, wenn eines der größten Wunder geschieht – und dies stets bemüht objektiv. Diese Einblicke, die von Bewunderung und Feingefühl begleitet wurden, fand ich ebenso interessant, wie ich für die komplette Inszenierung nur Faszination erübrigen kann.
Meist „nur“ subtil sind wir Teil von Gewalt und Brutalität, jedoch genügen die Andeutungen und das Wissen darum, was geschah und geschieht, um Gänsehaut zu verursachen, mitzubangen und zu fühlen. Auch schwingt eher unterschwellig ein durchgängiger Hauch von Bedrohung mit, mahnt zur Vorsicht, und vereint sich mit melancholischen Tönen, glasklarer Ungerechtigkeit und der offensichtlichen Unterdrückung von Frauen und Minderheiten zu einer Geschichte, die nichts anderes vollführen kann, außer zu bewegen. Zum Nachdenken zu bringen, Dankbarkeit zu empfinden. Die Autorin erinnert daran, dass noch vor ein paar Jahrhunderten mangelhafte Justiz und unzureichende Gerichtsbarkeit mit einem Fingerschnippen dafür sorgen konnten, dass die Opfer bestraft und die Täter gefeiert wurden.
Lawhon greift etliche rührende Situationen auf, verstreut Tatsachen und Vorurteile, die auch heute noch von Belangen sind, und zeichnet eine patriarchische Gesellschaft, in der Wohlstand, Liebe und Gerechtigkeit ebenso rar wie kostbar sind.
So viel Wut zwischen den Zeilen.
So viel Gefahr.
Schwermut.
Im Verlauf – der Aufmerksamkeit benötigt, Zeit braucht, um sich zu entfalten und zu wirken – begegnen wir einigen undurchsichtigen Figuren – Verdächtigen, Tätern und Opfern – und die Frage, wer für den Toten aus dem Fluss verantwortlich ist, schwebt über allem. Monate der Spurensuche, der Anschuldigungen und Vermutungen, der Prozesse vergehen und stückchenweise zeigt sich, dass diese Leiche nicht die einzige ist, die Hallowell im Keller hat …
Martha schreibt in ihrem Tagebuch häufig, dass sie zu Hause war – dieser Satz findet auch im starken Nachwort der Autorin, die sich detailreich zu den Geschehnissen, zu Tatsachen und Fiktion äußert, Betrachtung. Lest es unbedingt.
Das stumme Leid der Frauen, die leisen Verluste, die Tragik, all die Blessuren, die ertragen werden, die Unterdrückung, die nur jene sehen, die Aufbegehren, war stimmig in die sogartige Handlung eingebettet, in der eine Frau nach Wahrheiten sucht, nach Gerechtigkeit strebt. Hürden und Ärgernissen, den eigenen seelischen Verletzungen und der Angst, alles und jeden zu verlieren, zum Trotz.
Ariel Lawhon führt uns auf die Spuren der Martha Ballard und zeigt ein vergessenes Vermächtnis, zeigt, wie wertvoll der Beruf der Hebamme einst war und heute noch ist.
So kontrovers meine folgende Aussage klingen mag: In manchen Zeiten ist Selbstjustiz die einzig wahre Gerechtigkeit.
Von mir gibt's für dieses Buch eine große Leseempfehlung – egal, welches Genre ihr bevorzugt: Werft unbedingt einen Blick in „Der gefrorene Fluss“.