Die zurückgezogen lebende Ethnologie-Studentin Alex aus Ost-Berlin trifft in DER Wende-Nacht - richtig, am 9. November 1989- auf den westdeutschen Kommilitonen Oliver, einen Historiker, und lernt ihn sofort lieben. Es hat sie so umgehauen, dass sie gleich mehrere Tage bei ihm verbringt, um ihn dann gleich mitzunehmen und ihn ihrer Großmutter, der geliebten Momi vorzustellen. Die erlebt bei seinem Anblick einen Schock, der noch größer wird, als Oliver seinen Familiennamen nennt...
Was steckt dahinter? Dem Leser werden die Augen geöffnet durch die Geschichte Paulas, einer jungen Sozialdemokratin vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Auch sie eine Berlinerin, lebt sie für ihre Zeit ausgesprochen unkonventionell - außer in ihrer unbegrenzten Liebe zum schönen Clemens. Der Leser taucht tief ein in Paulas Leben - und in die deutsche Geschichte, vor allem die der einfachen und nicht ganz so einfach Leute - eben der Bürger des ausgehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Charlotte Roth erzählt so mitreißend, so lebendig, aber auch humorvoll, dass es quasi unmöglich ist, dieses Buch vor dem Ende - und auch dann nur sehr ungern - aus der Hand zu legen.
Was für ein Buch! Ich wünsche ihm, dass es auch noch in vielen, vielen Jahren gelesen wird, so historisch wichtig und unglaublich unterhaltsam, wie es ist. Die Charaktere waren mir beim Lesen unheimlich nah, ich liebte sie (Alex, Paula und Oliver), litt mit ihnen (Paula und vor allem Harry mit seiner unerwiderten Liebe.
Wer vor vielen, vielen Jahren wie ich durch Christine Brückners wunderbaren Roman "Jauche und Levkojen" aufgerüttelt wurde und ein neues Gefühl für Heimat, Geschichte und auch für Literatur entwickelte - dem wird auch dieses Buch ein Anstoß sein, sich mehr mit der "Vorzeit" - mit einer etwas früheren, aber für uns ebenso grundlegenden - zu beschäftigen, die Zusammenhänge zur Gegenwart sind einfach zu brennend und zu real, um sie zu ignorieren.
Ein Buch zum Immer-wieder-lesen, zum Vorlesen, zum Weitergeben (aber meines bleibt hier - für die beiden ersteren Aktionen) und vor allem: zum Verschenken, kurzum: Ein Buch fürs Leben! Wenn ich jemandem etwas richtig Gutes tun will, quasi mit Wohlfühlgarantie - dann werde ich ihm in Zukunft dieses Buch verehren! Ein Segen, dass es im Original als Taschenbuch erscheint, so ist es gleich möglich, es ganz, ganz weit zu verbreiten - so weit, wie es das verdient hat. Obwohl das meiner Ansicht nach erst nach einer Übersetzung ins Englische und vor allem ins Französische und Russische erst so richtig möglich wäre - es bleibt also, ganz, ganz fest die Daumen zu drücken für Autorin und Buch und natürlich die Werbetrommel zu rühren: Eine solch literarische Sensation darf auch den Nachbarn in unserem inzwischen so global gewordenen Europa nicht vorenthalten werden!