David Grann setzt sich in seinen literarischen Sachbüchern immer wieder mit der Frage des Überlebens in Extremsituationen auseinander. Ganz gleich, ob er uns in den Regenwald des Amazonas, in die weiße Hölle der Antaktis, auf die Ölfelder in Oklahoma oder, wie in seinem neuesten Sachbuch, auf hohe See mitnimmt.
„Der Untergang der Wager“ erzählt, so der Untertitel, eine „wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei“. Aber dieses akribisch recherchierte Buch hat mehr, viel mehr zu bieten, wirft es doch bei näherem Hinsehen einen entlarvenden Blick auf das britische Empire, das skrupellos seinen Einflussbereich mit allen Mittel erweitern und festigen will, sinnlose Kriege führt (siehe War of Jenkins‘ Ear 1739 – 1748) und ohne mit der Wimper zu zucken Menschen in den sicheren Tod schickt.
Anfang 1740 sticht die „Wager“ als Teil einer Flotte von 6 Schiffen in See. Sie ist kein Kriegs- sondern ein umgebautes Handelsschiff, nicht geeignet für die lange Reise bis zur Südspitze Südamerikas und die unter Seeleuten gefürchtete Umrundung Kap Horns. An Bord knapp 200 Mann Besatzung, die meisten zwangsrekrutiert, offiziell mit dem Auftrag, die spanische Flotte zu dezimieren, inoffiziell angewiesen, sich der vermuteten Goldschätze auf den Schiffen der Spanier zu bemächtigen.
Was folgt, ist Geschichte. Vor Patagonien wütet ein Sturm, dem die unterernährte und von zahlreichen Krankheiten gezeichnete Mannschaft nichts entgegenzusetzen hat. Die „Wager“ wird abgetrieben, läuft auf einen Felsen, bricht auseinander, sinkt. Die wenigen Überlebenden retten sich auf eine unbewohnte Insel. Ein halbes Jahr später landet an Brasiliens Küste ein windschiefer, notdürftig zusammengeflickter Segler mit 30 Männern, die sich als die einzigen Überlebenden des Unglücks zu erkennen geben…bis, ja bis ein halbes Jahr später 3 Schiffbrüchige in Chile an Land gespült werden, die eine ganz andere Version der Ereignisse erzählen. Sie erzählen von Meuterei, von Mord und von Flucht. Aussage steht gegen Aussage, wer sagt die Wahrheit? Dies gilt es herauszufinden, und so kommt der Fall nach der Rückkehr nach Großbritannien vor ein Kriegsgericht.
Wie gewohnt wurden von David Grann Unmengen der zugänglichen Materialien verarbeitet, was die Quellenangaben von S. 371 – 430 beweisen. Nach eigener Aussage hat er über fünf Jahre für dieses Buch recherchiert, einen Wust von Dokumenten gesichtet, detailliert geführte Log- und Tagebücher ausgewertet, sich vor Ort an den Originalschauplätzen umgeschaut und all diese Erkenntnisse zu einem höchst lesenswerten Sachbuch verarbeitet, das spannender als so mancher Thriller ist. Er liefert Informationen, ergreift aber keine Partei (höchstens zwischen den Zeilen), sondern überlässt es seinen Lesern, sich eine eigene Meinung zu diesem Fall zu bilden. Was man allerdings nicht vergessen sollte, und das scheint mir auch ein Anliegen Granns und die Kernaussage dieses Buches zu sein: Die offizielle Geschichtsschreibung stützt sich auf die Aussagen der Sieger und die Anweisungen derjenigen, die alle Möglichkeiten haben, damit nur die Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, die ihrem Narrativ dienen. Wen wundert’s?
Lesen. Unbedingt!