In den Tiefen des Pools
Selten hat mich eine Protagonistin so in ihren Bann geschlagen wie Alex, die in Emma Clines „Die Einladung“ einige Tage der Obdach- und Mittellosigkeit mitten im Überfluss der Hamptons auf Long Island ...
Selten hat mich eine Protagonistin so in ihren Bann geschlagen wie Alex, die in Emma Clines „Die Einladung“ einige Tage der Obdach- und Mittellosigkeit mitten im Überfluss der Hamptons auf Long Island überbrücken muss, nachdem ihr gutsituierter, älterer Liebhaber sie vor die Tür gesetzt hat.
Dabei haben es mir weder der Roman noch Alex zu Beginn besonders einfach gemacht: die ersten 50 Seiten vergingen quälend langsam, ich kam kaum in die Geschichte rein. Doch dann packte es mich: Clines subtiler Spannungsaufbau, der ganz existenzielle Kampf von Alex um die nächste Übernachtungsmöglichkeit und das nächste Mittagessen hat mich völlig gefangengenommen und tatsächlich sehr interessiert. Und dies, obwohl Alex weder sympathisch noch (zumindest für mich) einen Hauch von Identifikationspotenzial bietet.
Der Roman lebt tatsächlich zu einem sehr großen Teil davon, dass Alex eine Frau ohne Eigenschaften ist. Wie ihre zahlreichen Liebhaber auch erfährt man so gut wie nichts über ihre Herkunft oder Vergangenheit, man hat keine belastbaren Hinweise, wie sie sich in dieser Position wiederfinden konnte und würde sich äußerst schwertun, sie zu charakterisieren. Sie ist die vollkommene Opportunistin, die die Rolle spielt, die Männer von ihr erwarten, mit dem Ziel möglichst lange ausgehalten zu werden und ihr Überleben zu sichern. Um dieses Leben ertragen zu können, trinkt Alex und nimmt Schmerzmittel und Drogen, was sie sehr passiv und bisweilen apathisch wirken lässt. Darüber hinaus ist sie, in einem verzweifelten und unbewussten Versuch sich von dem Schmutz ihres Daseins zu befreien, süchtig nach Schwimmen – vorzugsweise in Pools.
An dieser oberflächlich betrachteten Geschichte einer kaputten Existenz, die in einer verfahrenen Situation durch den enormen Luxus einer sehr privaten Gesellschaftsschicht treibt, hat mir besonders die Symbolik gefallen. Zahlreiche Aktionen und Begegnungen sind mit einer tieferen Bedeutung aufgeladen, die sich aber nur bei genauer Betrachtung entschlüsseln lässt. Ebenso überzeugend ist das Motiv der grünen Welt um Alex herum oder das Reh, das immer mal wieder zwischen den Buchseiten erscheint. So schafft Emma Cline einen sozialkritischen Roman, der über eine ungeahnte Tiefe verfügt und feine literarische Qualitäten besitzt.
Auch wenn der Roman genau wie zu Beginn im vorletzten Viertel schwächelt und unter der beständigen Wiederholung Pool-Schmerzmittel-Sex in Langatmigkeit abzugleiten droht, kann das Ende des Textes doch wieder voll überzeugen. „Die Einladung“ ist allein thematisch sicherlich kein Roman für jeden Geschmack – ich selbst bin noch immer erstaunt, dass er mich so mitgerissen hat – aber eine Lektüre, die sich aufdrängt und beschäftigt.