Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Fünf ganz unterschiedliche Frauen in verschiedenen beruflichen Positionen machen von ihrer Firma aus eine Wanderung durchs Giralang-Massiv, einen undurchdringlichen Dschungel, um das „Teambuilding“ zu fördern. Sie werden nur mit einer Karte, einem Kompass, Zelten und Nahrung ausgestattet, Handys haben im Wald ohnehin keinen Empfang. Der Pfad, den sie gehen sollen, gilt als sicher und einfach. Nach einigen Tagen kommen jedoch nur vier Frauen zurück, sie tauchen an einem vollkommen anderen Punkt auf als geplant, alle von ihnen verletzt und erschöpft. Was ist im Wald geschehen? Und wo ist Alice, die vorhatte, mit der Polizei zusammenzuarbeiten und die kriminellen Machenschaften der Firma aufzudecken?
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Band #2 der Reihe um Aaron Falk
Verlag: ROWOHLT Taschenbuch
Seitenzahl: 416
Erzählweise: Figuraler Erzähler, teilweise ins Auktoriale gehend, Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive (Falk, Ermittler) & verschiedenen weiblichen Perspektiven (die Frauen)
Kapitellänge: mittel bis sehr kurz (nur eine Seite)
Tiere im Buch: + Es wird erwähnt, dass die Hauptfigur früher mit ihrem Vater angelte, jedoch werden konkret in der Geschichte keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Warum dieses Buch?
Dieses Mal war es das Cover, das mich sofort überzeugt hat. Ich liebe das glänzende Bild des Dschungels. Aber auch den Klappentext und die Rezensionen auf englischsprachigen Buchseiten fand ich vielversprechend. Die Tatsache, dass sich Reese Witherspoon die Filmrechte des ersten Bandes der Reihe gesichert hat, machte das Buch noch interessanter für mich. Eigentlich führte an „Ins Dunkel“ also kein Weg vorbei.
Meine Meinung
Einstieg (+/-)
Das ist eigentlich der einzige Kritikpunkt, den ich habe. Der Einstieg gelang mir nämlich nicht so leicht. Es dauerte einige Seiten, bis mich die Geschichte wirklich gepackt hatte und bis ich mittendrin war. Sobald ich allerdings die Figuren auseinanderhalten konnte und mich an den detaillierten Schreibstil gewöhnt hatte, wollte ich unbedingt weiterlesen.
„[…] alle Köpfe fuhren herum, als vier Gestalten auf der Hügelkuppe erschienen. Zwei stützten eine dritte, während die vierte neben ihr her taumelte. Aus der Entfernung wirkte das Blut auf ihrer Stirn ganz schwarz. […] ‚Ist Alice hier? Ist sie in Sicherheit? Hat sie es geschafft?‘“ Seite 9
Schreibstil (♥)
Jane Harper hat einen unheimlich angenehmen Schreibstil, den man sehr schätzt, sobald man sich an ihre eher detaillierten (aber nie ausufernden) Beschreibungen der Umgebung gewöhnt hat. Die Autorin schreibt einfach und sehr flüssig, unterhält die Leserinnen mit angemessener Komplexität und Tiefe. Auf mich wirkte die Sprache, die frei von Wiederholungen oder holprigen Stellen ist, sehr routiniert und gekonnt. Jane Harper ist eine wirklich gute Geschichtenerzählerin, der man gerne ins dunkle Giralang-Massiv nach Australien folgt. Besonders toll fand ich auch, wie nuanciert Gefühle und Mimik und Gestik der Figuren beschrieben werden. So werden einzelne Stimmungsumschwünge und auch die Spannungen in der Gruppe beim Lesen intensiv spürbar.
„Er war das zweite Mal auf diesem Pfad unterwegs, aber er erkannte nichts wieder. Die Landschaft schien sich zu verschieben und zu verändern, wenn sie unbeobachtet war.“ Seite 184
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)
Jane Harper hat eine sehr geschickte Erzählweise gewählt: Abwechselnd erfahren wir in der Gegenwart, wie die polizeilichen Ermittlungen, die Befragungen und die Suche nach Alice laufen, und in der Vergangenheit, was tatsächlich in diesem dunklen Wald geschehen ist, als sich die fünf Frauen bei ihrer „Teambuilding“-Wanderung verirrten und die Nerven verloren. Falls nun jemand fürchtet, dass eine der Handlungen langweilig ist oder dass wir Alice und Co seitenlang und ohne interessante Vorkommnisse durch den Dschungel irren sehen – dann kann ich euch beruhigen. Der Autorin gelingt es, bei beiden Erzählsträngen die Spannung hochzuhalten. Ständig passieren bedeutende Kleinigkeiten, Katastrophen oder Durchbrüche, und auch wenn der Fokus oft auf der Gruppendynamik, den gruppeninternen Spannungen und den Geheimnissen liegt, die jede der Frauen zu verbergen hat, war ich vollkommen gefesselt und konnte das Buch kaum beiseitelegen.
„Ins Dunkel“ ist ein frischer, unterhaltsamer, routiniert geschriebener Thriller, der sich nicht an Klischees bedient, sondern neue Wege sucht. Niemals weiß man, wie es weitergeht, das Miträtseln und Vermuten macht richtig Spaß. Die Autorin behandelt Themen wie Schuld, Freundschaft, Angst, Verzweiflung, Sucht, Familie und alte Wunden sehr gekonnt und tiefgründig. Die schwierige Situation in der Wildnis und das langsame Eskalieren der Lage werden anschaulich und eindrucksvoll beschrieben. Immer wieder gibt es auch dramatische oder tragische Passagen, die dazu führen, dass einem die Figuren leidtun. Genau so muss ein guter Thriller sein! Das Ende ist erfrischend unspektakulär, aber: Die Autorin inszeniert auch kleinere Geschehnisse so, dass man den Atem anhält, weil man sich fast nicht weiterzulesen traut. Übrigens ist es problemlos möglich, den zweiten Band vor dem ersten zu lesen, da es nur sehr wenige Anspielungen auf die Vorgeschichte gibt.
Protagonisten & Figuren (♥)
Jane Harper hat in ihrer Geschichte komplexe Figuren geschaffen, die oft in den Graubereichen zwischen gut und schlecht, sympathisch und unsympathisch leben. Vor allem die fünf Frauen wurden sehr liebevoll gezeichnet und die vielen verschiedenen Perspektiven (etwas, das ich eigentlich nicht so gern mag) waren nötig und sinnvoll, um herauszufinden, was in ihnen vor sich geht. Man lernt Lauren, Jill, Bree, Beth und Alice auf den knapp vierhundert Seiten immer besser kennen und beginnt langsam, sie zu verstehen. Immer wieder kommt es hier zu überraschenden Enthüllungen, die ich so niemals erwartet hätte. Ihre Entwicklungen sind glaubwürdig.
Auch Aaron Falk mochte ich als Ermittler. Er ist zwar ruhig, recht wortkarg und gibt nur wenig von sich preis, aber man merkt, dass er ein gutes Herz hat. Auch er war gut ausgearbeitet. Etwas blass fand ich seine Partnerin Carmen, die ich bis zum Schluss nicht richtig einschätzen und greifen konnte. Hier hätte ich mir noch etwas mehr Charakterarbeit gewünscht. Aber bei einem so großen Ensemble wichtiger Figuren und bei den ebenfalls gut ausgearbeiteten Nebenfiguren kann ich das leicht verzeihen.
Spannung & Atmosphäre (♥)
Eines steht fest: Ich habe noch nie erlebt, dass eine Autorin einen Handlungsschauplatz derart gut nutzt. Der Dschungel mit seinen undurchdringlichen Bäumen, seiner Kälte, seinen Gefahren und seiner grausigen Vorgeschichte bildet nicht nur einen kleinen Aspekt im Handlungsrahmen, sondern wird fast selbst zu einer wichtigen Figur im Buch, einem Monster, das stets bedrohlich im Hintergrund lungert und leise atmet. Die Autorin verwebt die Geschichte so eng mit dem Setting, das eines ohne das andere unvorstellbar erscheint. Dabei gelingt es der Autorin, so atmosphärisch dicht zu schreiben, dass man immer wieder – und auch bei 30 Grad Außentemperatur – fröstelt und es einem vorkommt, als wäre man selbst dort. Man spürt die Kälte in den Knochen, die Feuchtigkeit im Gesicht, den Wind im Haar. Toll!
Dieses Buch bietet mit Sicherheit nicht Action und spritzendes Blut auf jeder Seite, jedoch überzeugt die Autorin mit einer viel feineren atmosphärischen und psychologischen Spannung, die sie immer weiter steigert. Dabei helfen ihr sowohl ihr wunderbar genutztes Setting als auch die geschickt platzierten Cliffhanger, manche unerwartete Wendung, unheilvolle Vorausdeutungen und das Tempo, das durch immer kürzer werdende Kapitel bis zum Ende immer weiter erhöht wird. Es gibt glückliche, unheimliche, traurige und wütend machende Momente in „Ins Dunkel“, und die Autorin stellt auch immer wieder die wilde, ungezähmte Schönheit der Natur in den Mittelpunkt. Dennoch: Über allen Geschehnissen liegt stets eine unheilvolle Drohung, die man niemals ausblenden kann und die immer wieder zu Gänsehaut-Momenten führt.
„‘Da draußen sollte man nicht allzu lange herumirren. Das Schlimmste ist die Panik. Nach ein paar Tagen sieht allmählich alles gleich aus, und du traust deinen eigenen Augen nicht mehr.‘ Er schielte nach draußen. ‚Das macht die Leute verrückt.‘“ Seite 28
Geschlechterrollen (+)
Jane Harper präsentiert uns in ihrem Buch eine breite Bandbreite verschiedener Frauen und Männer, die sehr gut die Realität abbilden. Jede Frau ist charakterlich und körperlich vollkommen unterschiedlich, niemals ist eine Frau bloß hübscher Schmuck. Die Frauen im Buch sind großteils stark und selbstbewusst, viele haben machtvolle Positionen im Unternehmen und arbeiten hart für ihre Karriere. Jedoch gibt es leider auch einen Vorfall von Slutshaming (noch dazu von einer Frau und Mutter), ansonsten wird mit einem schwierigen Vorfall sehr vernünftig umgegangen. Zusätzlich fällt auch mehrmals das Wort „Miststück“, das aber niemals das Liebesleben der Frauen beschreiben soll, sondern als Beleidigung für unsoziales Verhalten benutzt wird. Dennoch hätte ich mir, die Fotos betreffend, etwas mehr Sensibilität der Autorin für das Thema „Geschlechterstereotypen“ gewünscht. Einmal wird sich gewundert, dass ein Mann kochen kann (eine mehr als altmodische Aussage, da heute jeder kochen können sollte) – bei einer Frau hätte es wieder jeder selbstverständlich angenommen. Insgesamt bin ich mit dieser Geschichte jedoch auch, was den Genderaspekt betrifft, sehr zufrieden.
Mein Fazit
„Ins Dunkel“ von Jane Harper ist ein Thriller, der diese Genrezuordnung verdient und der mich vollkommen überzeugen konnte. Obwohl mir der Einstieg etwas schwerfiel und obwohl bei einer Nebenfigur noch etwas mehr Charakterarbeit nötig gewesen wäre, punktet das Buch in allen anderen Bereichen. Der Schreibstil ist sehr angenehm, anschaulich und routiniert, die Hauptfiguren sind komplex und liebevoll gezeichnet, und die Geschichte ist wendungsreich und wird sehr geschickt erzählt. Jane Harper bietet nicht Action auf jeder Seite, sondern eine viel feinere, hochatmosphärische und psychologische Spannung, die sie bis zum Schluss steigern kann. Dabei gelingt es der Autorin, das Setting, diesen undurchdringlichen Dschungel, perfekt zu nutzen. Über allem liegt stets eine unheilvolle Drohung – der Wald wirkt wie ein Monster, das stets versteckt im Hintergrund lungert und leise atmet. So kommt es vor, dass man oft vergisst, dass man eigentlich nur ein Buch liest und dass Hochsommer ist. Und plötzlich – bei 30 Grad Außentemperatur – fröstelt man.
Der erste Band ist schon bestellt, auch auf die Verfilmung des ersten Buches und etwaige Folgebände freue ich mich schon sehr!
Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung! Besonders Menschen, die psychologische Spannung und einen toll genutzten, unheimlichen Schauplatz lieben, werden mit diesem Buch große Freude haben!
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 3,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonisten: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +
Tiefgründig!
Insgesamt:
❀❀❀❀,5 Lilien und trotzdem ein Herz
Dieses Buch bekommt von mir 4,5 Lilien, die aufgerundet werden, und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!