TochterAlice
vor 4 Jahren
(5)
kann, darf nicht Teil der eigenen Verwandtschaft sein?
Nun, bei Jennifer Teege ist es so und er hat nicht nur Rotkäppchen, sondern gar viele arme Seelen auf dem Gewissen: ihr Großvater war nämlich Amon Göth, der "Schlächter von Plaszów", vielen bekannt aus "Schindlers Liste". Spät wurde die Autorin mit diesem Teil ihrer Vergangenheit, besonders makaber der persönliche Hintergrund: Amon Göth hat als Kommandant von Auschwitz nicht nur Juden, sondern alle andersartigen Menschen skrupellos umgebracht: ganz egal, ob die Andersartigkeit durch Herkunft, Gesinnung oder Aussehen bedingt war -zynisch ist er dabei vorgegangen und erbarmungslos.
Seine Enkelin Jennifer ist aus der damaligen Sicht auch anders, nämlich dunkel: sie hat einen wunderschönen Teint, den sie ihrem Vater, einem Nigerianer verdankt - einem Untermenschen aus der Sicht von Amon Göth. Früh wurde sie zu einer Pflegefamilie gegeben, hatte anfänglich noch Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter, Monika Göth und zu ihrer Oma, Ruth Irene Kalder, der Geliebten von Amon Göth, der jedoch abbrach. Sie wuchs bei gütigen, verständnisvollen Eltern, aber fehlte etwas: ihre Vergangenheit. Wie so viele Adoptivkinder, suchte und fand sie beide Eltern wieder. Sie kannte also ihre Eltern, ihre Oma, doch erfuhr sie den familiären Zusammenhang erst durch ein Buch ihrer Mutter, das ihr zufällig 2008 in die Hände fiel.
Jennifer Teege beschreibt das Leben mit diesem Erbe - einem der großen Naziverbrecher, ja einem Massenmörder als Großvater. Und mit einer Mitläuferin, Mitwisserin, Begleiterin als Großmutter - einer Frau, die ihr als Kind gütig und liebevoll begegnete, die sie bis dahin nur positiv sah. Mutig legt sie das Dilemma, den inneren Zwiespalt dar, der sie so aufgewühlt hat: darf man eine solche Frau lieben? Kann man gegenüber ihr warme Gefühle, Erinnerungen, ja Sehnsüchte zulassen?
Doch dies ist nicht die einzige "Baustelle", die Jennifer Teege mit dem Wissen über ihre Vergangenheit zu klären hatte: nein, ausgerechnet sie hat enge Bindungen zu Israel, spricht Hebräisch, hat zwei sehr enge Freundinnen in dem Land. Wie sollte sie diese mit ihrem Erbe konfrontieren?
Ein kluges, reflektiertes und sehr persönliches Buch über Vergangenheit, historische Fakten, Sichtweisen - und über die Liebe. Aus meiner Sicht ein Gewinn für jeden aus der Generation der Nachkommen, der vielem verständnislos und ohnmächtig gegenübersteht, gewisse Fakten seine Familie, seinen Ursprung betreffend nicht begreifen will, es gar nicht kann, denn erstens zeigt uns Jennifer Teege, dass es gar keine optimale, sondern nur eine sehr persönliche Herangehensweise, ein individuelles Begreifen, eine individuelle Verarbeitung gibt. Es gibt auch andere Stimmen, so werden bspw. Stellungnahmen ihrer Adoptivmutter, ihres Adoptivbruders eingeblendet, historische Tatsachen werden mitgeteilt. So wird der Leser nicht nur von Jennifer Teeges Perspektive begleitet, sondern erfährt auch die Reflexion ihres Umfeldes. Ein kleines großes Buch, das ich sicher wieder und wieder zur Hand nehmen werde. Jennifer Teege hat aus meiner Sicht einen großen Schritt getan, der nicht nur ihr, sondern auch mir weitergeholfen hat.
Ich empfehle es jedem, der ein familiäres Erbe - sei es groß, sei es klein, ist es von Wissen oder von Nichtwissen geprägt. Mir hat das Buch gezeigt, dass ich zwiespältige Gefühle hinsichtlich meiner Vergangenheit zulassen darf, ja muss, um weitermachen zu können. Weitermachen heißt nicht "nur" weiterleben, indem man weiter funktioniert. Nein, es bedeutet auch die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln mit diesem Wissen, zu sich selbst und zu seinen widersprüchlichen Empfindungen zu stehen.