Familienstammbäume sind ein sehr spannendes und häufig komplexes Thema. In einigen Familien gibt es sehr ausführliche Aufzeichnungen über Abstammungen, Kinder, Berufe und all die Dinge, die man seine verstorbenen Vorfahren eben nicht mehr fragen kann. Bei anderen weiß man vielleicht nur wenig und fragt sich oft, wie denn die Ururahnen so waren, was sie gemacht und gedacht, wie sie gelebt haben und was sie sagen würden, wenn sie wüssten, was sich seitdem alles verändert hat. Bei manch einem Verwandten würde man sich wünschen, ihn nicht so früh gehen lassen zu müssen, bei anderen ist man vielleicht froh, wenn man ihn los ist. Aber ist man das wirklich? Protagonistin Jojo würde dazu wohl ganz eindeutig „nein“ sagen. Denn bei ihr zu Hause leben nicht nur ihre Eltern und ihr Bruder, sondern auch ein paar ihrer bereits verstorbenen Vorfahren. Ob sie nun will oder nicht, sie sind da, sie mischen sich ein, quatschen dazwischen und sind noch genauso eigensinnig, wie zu Lebzeiten. Jojo und einige andere Mitglieder ihrer Familie können Geister sehen und das bringt ihnen nicht unbedingt von allen Seiten Bewunderung ein. Und als wäre das allein nicht schon ungewöhnlich genug, beginnen so kurz vor dem großen Fest im idyllischen Heaven’s End unheimliche Ereignisse die Bevölkerung zu beunruhigen. Mitten drin Jojo und ihre Freude, die unbeabsichtigt in den ganzen Schlamassel reinrutschen. Oder ist es doch nicht ganz so zufällig?
Der lockere, leichte Schreibstil von Kim Kestner hat mich von Beginn an mitgenommen und gleichzeitig gefesselt. Schon im Prolog wird deutlich, wie magisch die Geschichte werden könnte, erste Fragen tauchen auf und nach und nach setzen sich dann die Puzzleteile zusammen, die man benötigt, um die Zusammenhänge zu verstehen. Zahlreiche Verstrickungen und Geheimnisse werden zu Tage befördert, von denen Jojo so gar nichts geahnt hat. So kann man als Leser gemeinsam mit ihr entdecken, was in der Familiengeschichte ihrer Vorfahren passiert ist, wo es Bekanntschaften mit schwerwiegenden Folgen gab und wieso das immer noch Auswirkungen auf die Gegenwart hat.
Durch bildgewaltige Formulierungen kann man sich die Protagonisten, die Schauplätze und vor allem auch die Geister und Andersweltwesen sehr genau vorstellen. Besonders gelungen finde ich die sprachlichen Anpassungen, die in Bezug auf die Geister eingearbeitet wurden. Dass die verstorbenen Familienmitglieder aus einer anderen Epoche kommen, zeigen sie bei ihrer Kommunikation sehr deutlich. Einige für uns altertümlich klingende Begriffe sind für sie ganz normal und sie verheimlichen auch nicht, wie sehr sie einige der „neumodernen“ Entwicklungen verabscheuen. Da gibt es nicht nur für die Protagonistin, sondern auch für die Leser immer mal wieder was zum Lachen.
Für mich gab es aber auch außerhalb der Geisterkommunikation im Buch immer wieder Passagen, in denen ich richtig lachen musste, allerdings auch Situationen, die einen mit fiebern lassen, die nachdenklich machen oder zum Grübeln bringen. Die Geschichte ist sehr vielseitig und wird im Verlauf immer komplexer und spannender. Durch die ganzen unterschiedlichen Charaktere, die ihre Eigenarten und Macken mit einbringen dürfen, wird das Buch richtig lebendig und ständig passiert etwas Neues. Bei ein paar wenigen Figuren werden zwar auch einige Klischees bedient, mich hat das allerdings nicht gestört, da es im Gesamtbild eine gute Mischung ergibt. Und es gibt die Menschen, die man in Schubladen stecken kann, eben auch im echten Leben. Dadurch kann man sich manche Personen auch sofort vorstellen, ohne dass lange über sie berichtete werden muss.
Jojo lernt man besonders intensiv kennen, da das Buch aus ihrer Ich-Perspektive geschildert wird. Die 15Jährige ist keinesfalls auf den Kopf gefallen, doch wenn ihr Zack begegnet, dann verliert sie schon mal die Fähigkeit sich anständig zu artikulieren. Die sich dort entwickelnden Gefühle sind sehr schön zu verfolgen, besonders mag ich die kleinen Irrungen und Wirrungen, die sie überstehen müssen, bis es doch einen harmonischeren Weg geben könnte und auch der ist dann alles andere als wirklich einfach.
Man ist Jojo beim Lesen sehr nah und kann ihre Gedanken und Gefühle detailliert mit verfolgen, dadurch weiß oder ahnt man manchmal schon, was sie sich so in den Kopf gesetzt hat, bevor sie ihren Freunden oder der Familie davon erzählt. Ich habe die mutige Protagonistin sehr lieb gewonnen während des Buches. Sie ist alles andere als perfekt, aber das macht sie erst recht sympathisch. Ich bin gespannt, wie sie sich im Laufe der Trilogie so entwickeln wird, denn ihre Reise ist wohl alles andere als zu Ende an dieser Stelle, auch wenn sie einige sehr wichtige Hürden genommen und sehr viel erfahren hat.
Einige Entwicklungen konnte man erahnen, jedoch nicht unbedingt, wie es dazu kommt. Immer wieder gab es auch Überraschungen, Wendungen und Offenbarungen, die die Voraussetzungen noch mal gehörig durcheinander wirbeln und den Charakteren neue Steine in den Weg legen. Für Jojo ist schon die erste Herausforderung überhaupt Verbündete zu gewinnen, denn wer glaubt schon, dass sie Geister sehen kann?
Meine Lieblingsworte im Buch: Prinzickchen und Problemkontinent (das versteht man nur im Zusammenhang, wer es gelesen hat, weiß, was ich meine ;) )
Fazit
Ein wirklich toller Auftakt, der durch den Cliffhanger und den noch offenen Fragen richtig neugierig auf die Fortsetzung macht. Ich hoffe, man wird wieder so schön miträtseln, grübeln und mit den Figuren mitfiebern können, wie es im ersten Buch der Fall war. Besonders gelungen finde ich die Kombination aus Übernatürlichem und dem ganz normalen Familien- und Teenagerwahnsinn. Die Geister machen die Handlung noch abwechslungsreicher, sorgen für zusätzliche Probleme und witzige Momente. Mich hat das Buch von Anfang bis Ende gut unterhalten und schon allein wodurch man selbst die gesamte Zeit überlegt hat, wie was zusammenhängen könnte, wird es nie langweilig oder uninteressant.