Im Grund genommen ist der Vinschgau eine beschauliche, dörfliche Gegend. Das Leben könnte hier im 20. Jahrhundert eigentlich genau so weiterlaufen, wie es das jahrhundertelang zuvor unverändert auch tat. Ein bäuerliches, einfaches Leben, traditionelle soziale Strukturen, tief verwurzelte Religiosität, Alltag in den Alpen. Politik, Ökonomie, Ökologie spielen jedoch auch hier wie in ganz Europa in die Idylle hinein – und machen Südtirol zu einem Sonderfall. Plötzlich sind die Menschen im Vinschgau keine Tiroler mehr, keine Österreicher, sondern Italiener. Spürbar wird es nach Mussolinis „Marsch auf Rom“. Die Italisierung drängt das deutsche im Alltag vehement und proaktiv zurück, verbietet beispielsweise das Unterrichten der deutschen Sprache, die nationalsozialistische Besatzung ein paar Jahre später dreht das Ruder wieder um 180 Grad herum und wäre das alles nicht belastend genug, schwebt über allem der seit Jahrzehnten geplante Staudamm, der allen Verzögerungen und Beteuerungen zum Trotz plötzlich doch den Lebensraum der Menschen bedroht.
Marco Balzano erzählt die Geschichte, das Schicksal eines ganzen Landstrichs anhand der Geschichte von Trina, einer jungen Lehrerin aus Graun, ein Einzelschicksal und doch exemplarisch für „alle“.
Sie ist zu einem nicht näher bestimmten Erzähl-Zeitpunkt seit Jahren von ihrer Tochter getrennt, und so stellt das Buch so etwas wie eine an sie gerichtete Erzählung der Mutter dar. Trina berichtet vom Dorf, von ihrer Jugend, ihrer Ehe und dem ganzen Drumherum, das den Alltag nun mal beeinflusst: die Weltpolitik, Ideologien von Diktatoren, wirtschaftliche Interessen von Unternehmen. Trina ist tief verwurzelt in der Gegend, lehrt an klandestinen Schulen in Katakomben, dient als Schreiberin und Übersetzerin fast für das gesamte Tal, denn viele der Bauern können nicht schreiben und lesen, geschweige denn auf Italienisch. Sie fühlt sich als Vinschgauerin, setzt sich daher für die deutsch-österreichische Kultur ein, aber später „Heim ins Reich“, in ein ihr vollkommen fremdes Land zu gehen, diese Option stellt sich nicht. Ihr Heimatgefühl ist bestimmend, aber viel regionaler, kleinräumiger. „Ich bleibe hier“ beschließt sie, gemeinsam mit Mann Erich und Sohn Michael. Die gleiche Antwort auf eine ähnliche Frage – als der Staudamm droht, Enteignung und Umsiedlung anstehen – Trina bleibt auch dann.
Marco Balzano gelingt etwas sehr Bemerkenswertes: er erzählt eine kleine Geschichte, eine persönliche Geschichte, in einem nicht allzu langen Roman. Und doch umspannen die rund 280 Seiten alles, was die Bewohner von Reschen und Graun in erster Linie, und sehr vergleichbar viele Bewohner Südtirols, und in noch weiter gefasstem Rahmen Millionen von Menschen in Europa im 20. Jahrhundert geprägt hat: das Grauen des Ersten Weltkriegs, ganz Europa wird durchgeschüttelt, neue Grenzen werden gezogen, neue Politik geschaffen. Es entstehen Widerstände, Unzufriedenheiten, neue Führer, nicht neue Ideologien, aber neue Dynamiken der Durchdringung. Das Aufkommen der Faschisten in Italien, der Nationalsozialisten in Deutschland, der Anschluss Österreichs, das Optieren für „Heim-ins-Reich“, der 2. Weltkrieg, das Zerbrechen der Achse Italien-Deutsches Reich, Besatzung, Befreiung. Die Dichte der Ereignisse, die tiefe Spuren hinterlassen im Leben des Einzelnen sind gigantisch. Dazu eine Hinwendung zu Industrialisierung und Technologie auch in zutiefst und bisher rein agrarisch geprägten Bereichen, eine ganz andere Intensität der Nutzbarmachung der natürlichen Ressourcen durch den Menschen, durch Konzerne, den Staat. Und wieder eine Beeinflussung jedes einzelnen Betroffenen, dessen, was er erblickt, wenn er aus dem Fenster schaut. Wieder alles neu, diesmal anders motiviert, aber nicht weniger brutal. Dazu das „normale Leben“, mit harter Arbeit, Liebe, Kindern, Krankheiten, Todesfällen, alles was so nebenbei passiert.
Es gibt keinen Stillstand – und ich möchte ihn hier nicht propagieren, und ja, es gibt sicher gesamtwirtschaftliche Interessen, die über dem Einzelinteresse stehen müssen, aber die Masse dessen, was über die Erzählerin hereinstürzt, ist unfassbar, ohne dass der Autor übertrieben hat, er hat nicht zu dick aufgetragen, dramatisiert. Er zeigt ein absolut durchschnittliches, exemplarisches Menschenleben aus dem Volk, aus dieser Region – das, was Trina passiert, ist absolut naheliegend. Alles in allem stellt es das genaue Gegenteil dessen dar, was man so landläufig vor dem inneren Auge hat, bekäme man die Eckdaten Südtirol, oberes Etschtal, bäuerliches Leben, gewachsene familiäre und dörfliche Strukturen genannt. DAS ist nur die Fassade, das LEBEN, die Geschichte, Freude und (hier eindeutig mehr) Leid liegen im Verborgenen und sehen mitunter ganz anders aus. Wer nur an der Oberfläche kratzt, kann davon nichts sehen, aber es wäre zumindest nett und sich dafür zu interessieren, was darunter liegt. Und der Reschen-See macht es einem da doch sehr einfach: denn der Kirchturm guckt da ja wirklich aus dem Wasser, er durchbricht nach wie vor die Oberfläche. Und auch wenn es kein Drei-Schluchten-Damm ist – dafür liegt er viel näher, dafür sind uns die Menschen viel näher. Das ist kein Selfie-Spot. Das ist ein Denk-mal-Spot mit Betonung auf denken, vielleicht per se das Problem mit dem schönen Selbstbildnis vor malerischer Kulisse.
Fazit: absolute Leseempfehlung, eine sehr dichte Erzählung, bei der man auch so manches Mal wieder die Internet-Enzyklopädie für die genauen Hintergründe zu Rate zieht. Gut für die historische Allgemeinbildung, gut für die politisch-ökonomisch-ökologische Wahrnehmung, ohne dass man den Eindruck hat, eine „schwere“ Lektüre vor sich zu haben.