Alles Lüge!
Fast kann er einem leid tun, der Karl May - aber nur fast. Denn: Die Geschichte über diesen fantasievollen Blender, die Philipp Schwenke hier erzählt, ist einfach ungemein vergnüglich. Ein Abenteurer, ...
Fast kann er einem leid tun, der Karl May - aber nur fast. Denn: Die Geschichte über diesen fantasievollen Blender, die Philipp Schwenke hier erzählt, ist einfach ungemein vergnüglich. Ein Abenteurer, der alle Kontinente bereist hat, 800 Sprachen spricht, Winnetous Blutsbruder ist und Gegner mit einem Fausthieb niederstreckt? Um es mit Herbert Grönemeyer zu sagen: Alles Lüge! Bis er 57 Jahre alt ist, hat Karl May Sachsen praktisch nie verlassen, aber zahlreiche Reiseerzählungen veröffentlicht. Nichts davon hat er selbst erlebt, aber seine begeisterten Leser glauben ihm nur zu gerne, dass niemand als May selbst Old Shatterhand ist, dieser Teufelskerl, der aus jeder Situation als Sieger hervorgeht.
Philipp Schwenke nimmt seine Leser mit in die wirkliche Welt von Karl May, obwohl: Realität ist ja so eine Sache beim Schöpfer Winnetous. „Die Wirklichkeit aber, sie hat zu flimmern begonnen. Eine weniger labile Seele als Karls hätte der Begeisterung vielleicht etwas entgegenzusetzen gehabt: der wachsenden Zahl enthusiastischer Leserbriefe, den immer dreisteren Behauptungen, die ihm das Publikum glaubt. (…) Aber in dem Irrsinn, mit dem man ihn liebt, entgleitet Karl sich selbst. Das Karl-May-Fieber steckt ihn an, so wie es alle ansteckt. (…) Karl erschuf Wirklichkeit, indem er sie niederschrieb. Gedanken wurden wahr, wenn er sie in Worte fasste.“
Auch, um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, startet Karl May 1899 seine erste wirkliche Reise in den Orient. Dort ist er mit einer Realität konfrontiert, die ihm gar nicht schmeckt: Zu seinen größten Feinden gehören Verdauungsprobleme, ihm schwindelt schon ob der Höhe eines Pferderückens und beim Versuch, tatsächlich Arabisch zu lernen, kann er sich nicht mal zwei Vokabeln pro Tag merken. In Deutschland erscheinen derweil immer mehr kritische Zeitungsartikel, die May als „Verderber der guten deutschen Sitten“, „einen lächerlichen Don Quijote“, „Hanswurst im Lederrock“ oder „Old Shatterhead“ öffentlich der Lüge bezichtigen. Doch Karl May wäre nicht Karl May, wenn er nicht auf seine ganz besondere Art damit umgehen würde…
608 Seiten - das ist schon eine Ansage. Aber wenn man sich erstmal heranwagt, wird man belohnt, denn Schwenke formuliert ganz vorzüglich, wie ich finde, Beispiel gefällig? „Werner war ein viriler Mann von bald 40 Jahren, dessen Augenbrauen so buschig wucherten, als habe sein gewaltiger Schnauzbart noch zwei Neffen auf der Stirn.“ Nun geht es selten um Werner, sondern vielmehr um Karl in verschiedenen Lebensabschnitten, seine Ehe mit Emma und später mit Klara, seine Gerichtsverhandlungen und natürlich um seine Reisen.
Und es ist wirklich urkomisch, wie der Held, der nur auf dem Papier einer ist, sich wiederholt aus Situationen rettet, in denen seine Fans Demonstrationen seiner schier unglaublichen Künste erbitten. Oder wie er theatralisch Winnetous Locke hinterher jagt, die der Wind aus einem Medaillon davonweht, um wenig später einfach ein neues Büschel Pferdehaar nachzufüllen.
Ich bin ehrlich: Klar kenne ich die Filme von Winnetou und Co., aber ein Karl-May-Buch habe ich noch nie gelesen. Und bei der Lektüre von „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ habe ich schon dann und wann gedacht: Was für eine Type! Aber Philipp Schwenke entwirft in seinem Roman ein durchaus liebevolles Bild des Anti-Helden, liefert viel Biografisches - und das Leben Mays bietet tatsächlich viel Interessantes - aber ein bisschen Dichtung steckt wohl auch im Detail. Wie könnte es bei einer guten Karl-May-Geschichte anders sein? Ein bisschen Schmu gehört dazu.
Es gibt immer wieder Zeitsprünge, was aber der Spannung förderlich ist. Aber: Wo Licht ist, da ist meist auch Schatten. Mir waren die Ausführungen, so schön sie auch geschrieben sind, an manchen Stellen eindeutig zu lang und zu episch. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen, aber mit ein bisschen Querlesen bin auch ich vergnügt und mit dem Gefühl, meinen Horizont erweitert zu haben, zum Ende gelangt. Gerne vergebe ich vier Schläge mit der Schmetterhand und fasse ins Auge, auch mal einen Karl-May-Roman zu lesen. Howgh, ich habe gesprochen!